Bleich und stumm nahm der Totengräber sein Kind auf den Arm und trug es heim. Seine Arbeit beendete er an diesem Tag nicht mehr, und Maria sammelte mit blutenden Knien die Teile des Schädels auf und legte sie behutsam zu den anderen Knochen. Konnte es sein, dass ihre Finger dabei zitterten? Ja, ganz leicht bebten sie mit dem Herzschlag. Auch noch in der Kammer zu Hause, wo sie die aufgeschürften Hände in die Waschschüssel legte, und ihr die Mutter die Knie wusch. »Entsetzlich« nannte die Mutter diesen Zwischenfall, aber Gott sei Dank, sei das Kleid nicht zu Schaden gekommen. Ja, das Kleid war wichtig, das einzige Kleid, das Marias Beine noch gut bedeckte.
Maria legte es am Abend sorgfältig über einen Stuhl, bevor sie zu Bett ging. Heute blieb sie auf dem Rücken liegen, obgleich es für sie ungewohnt war und ihr das Einschlafen schwer machte. Steif wie ein Brett blieb sie, konnte sich nicht wie gewohnt einrollen gleich einem Kätzchen im Schoß. Das Zucken in den Knien hatte nachgelassen, und auch ihre Hände waren ruhig. Daran konnte es nicht liegen. Das Wispern und Tuscheln der Eltern säuselte durchs Zimmer und nahm kein Ende. Aus dem Nebenzimmer bellte Vobbes Husten, und draußen im Garten zankten sich Amseln. Eine andere trällerte laut und vernehmlich wieder und wieder ihre Melodie über die Dächer, bis es dunkel war. Der gelbe, spitze Schnabel des schwarzen Vogels wanderte mit hinüber in Marias Schlaf, begann auf der lehmigen Erde zu picken und holte sich Gewürm heraus. Und der Vogel gelangte an den Schädel, der auf dem Erdhügel ruhte, schlug tönern die Schnabelspitze an, steckte den Kopf in die Augenhöhle und zog einen Faden gesponnenen Garns ans Licht. Ein unendlicher Faden wurde es, der sich herauswand, von selbst auf eine Spule sprang, die sich drehte und drehte, und aus der anderen Augenhöhle trat ein neuer Faden hervor. Auch er spulte sich auf, war unendlich lang, nahm kein Ende, und doch blieben die Spulen fast leer, so hastig sie sich auch drehten und den Faden aufnahmen. Maria und die Totengräberstochter beschlossen, den Schädel zu zerschlagen, und just in dem Moment, in dem er in Brüche ging, endete der Faden. Die Mädchen lachten, bis Maria Blut an ihren Beinen sah. Es klebte nicht an den Knien, sondern tropfte von weiter oben herab, und das kleine Mädchen fragte Maria, was sie denn habe.
»Nichts«, sagte Maria, »was dich etwas angeht. Sei froh, dass du das nicht weißt.« Und die Kleine, zufrieden mit dieser Antwort, lachte ihr unschuldiges Kinderlachen, dieses unwissende, glückliche Lachen, um das Maria sie so beneidete.
3. Kapitel
Maria schätzte ihre Gabe, unangenehme Träume am Tage beiseite kehren zu können wie Schmutz vor der Tür. Der Erdhügel im Kirchhof war bald verschwunden, und sie ließ ihren Traum mit begraben.
Die Gräber umgaben die Kirche, die nur aus Steinen bestand, aus Mauern wie jedes andere Haus. Außer einer gewissen Erhabenheit der hohen Wände, die im Innern der Kirche zwischen den Pfeilern die Stimme verhallen ließen, und trotz ihres Respekts vor dem Altar empfand Maria wenig Rührung im heiligen Raum. Es schien ihr, als sei am Rand der Stadt auch dieser Gott weniger wert als im reichen Mittelpunkt.
»Der Pfarrer und andere Gelehrte können über ihn reden, wir können ihn nur bitten und anflehen«, sagte Christoph Stechard gleich einer Erläuterung zum Sinn und Zweck des Kirchganges, bevor sie das Haus verließen. Draußen auf der Straße hob er den Kopf der Kirche entgegen, als bereite er sich auf einen geheimen Kampf vor. Und so waren die Kirchenbesuche für Maria eher ein Bittgang zu einem feindlichen Wesen, das man durch regelmäßige Glaubensübungen wie Beten milde stimmen wollte. Maria gab sich redlich Mühe, dem nachzukommen, wollte aufrichtig den Worten des Pastors folgen, was ihr aber selten gelang. Nur über die Hälfte der Sätze nachzudenken, hätte den ganzen Sonntag beansprucht und zu nichts geführt. So saß sie mit züchtig im Schoss gefalteten Händen in der durch und durch von Modergeruch durchzogenen Kirche und lauschte. Wenn es windig war, störten zuschlagende Fenster die Andacht. Im letzten Krieg hatten die Franzosen die Kirche als Futterdepot missbraucht, und beim Auffliegen eines Pulvermagazins in der Nähe waren Risse im Mauerwerk entstanden. Durch diese rieselte nun bei Sturm und Gewitter leise Sand, und die Gemeinde richtete furchtsame Blicke nach oben.
Auf Marias Gesicht waren ebenfalls besorgte Blicke gerichtet. Ganz deutlich fühlte sie es, so wie zu Hause, und noch ehe sie sich zur Seite wandte, war sie sich sicher, dass ihre Mutter sie ansah. Dieses bekümmerte Schauen und Betrachten konnte sie nun fast jeden Tag an der Mutter entdecken. Wenn Maria aus dem Haus ging und wenn sie zurückkam, fühlte sie diese Blicke. Musternd und fragend hingen sie an Marias Körper bei der Arbeit, beim Weben, beim Putzen, beim Essen.
Schon wie Maria den Löffel zum Mund führte, mit weiblicher Geste, oder sich mit Ernst über eine Sache äußerte. Kein unbedachtes Aufjauchzen schrillte mehr durchs Haus, und die Pausbäckchen waren längst zu Rosenwangen geworden. In den Augen dieser Spritzer von Stolz, den Greta Stechard so gut kannte. O ja, sie kannte diesen Stolz, den sie selbst in sich trug wie einen heimlichen Schmuck, den man sparsam zeigte, nur am rechten Ort. Auch war da dieser eiserne Wille, der verborgene Trieb, den eigenen Kopf durchzusetzen, nicht mit Trotz, sondern still, geduldig, ja auch mit etwas Berechnung auf Vorteile. Nein, dumm war ihr Kind nicht! Wie die Mutter, die damals ihr Ziel verfolgte, vor ihrer Schwester die Braut Christoph Stechards zu werden. Stechard hatte nichts zu bieten außer seiner schönen Erscheinung, die seine etwas behäbige Art wettmachte, und hinter seiner Schweigsamkeit vermutete jedermann Klugheit. Allein der Gedanke, von diesem Mann ein Kind zu bekommen, ließ Greta das kurze, trügerische Glück im verborgenen Heuschober als das Höchste auf Erden erscheinen. Ein Kind von diesem Mann musste ein Goldstück sein! Und so hatten sie nun nichts außer diesem Goldstück, ihrem Mädchen, das heranwuchs, aß und Kleidung brauchte. Greta Stechard kam sich schlecht vor in den Momenten, in denen sie dachte, es hätte besser ein Junge sein sollen. Ob armer Junge oder armes Mädchen - war es nicht gleich? Trotzdem, wenn sie ihre Tochter so sitzen sah, wollte sie sie beschützen vor diesem hinterhältigen Leben, das einer Frau doch viel übler mitspielen konnte als einem Mann. Ha, wie schnell hat man ein Kind im Bauch! Daher hatte Greta Stechard sich und ihrer Tochter Strenge auferlegt, da sie das Wesen der Unvernunft kannte.
Nun sprach Maria manchmal vom Heiraten, und neulich, nach dem Kirchgang, unten am großen Tisch, erwähnte sie die Dorothea, die leider keinen Mann bekommen hatte. Leider! Wieso sagte sie leider? Dann fragte Maria ihren Vater, ob sie in zwei Jahren zu ihrer Konfirmation ein gutes Kleid bekommen könnte, und der Vater löffelte stumm, zuckte die Schultern, als wisse er darauf keine Antwort, als gäbe es keinen Zweifel daran, dass dies ein unerfüllbarer Wunsch war.
»Was denkst du an solche Sachen?« Der Mund der Mutter wurde schmal und starr. Hart wischten die Worte einer Ohrfeige gleich über Maria hinweg.
»Was redest du vom Heiraten, Kind? Dorothea hat nicht geheiratet und viele andere auch nicht. Du bist arm und wirst dir keinen Mann aussuchen können. Schlag dir die Gedanken daran aus dem Kopf!«
Der Strenge der Mutter konnte Maria selten etwas entgegenhalten. Die Mutter wusste, was sie sagte. Aber an diesem Tag rannte Maria vom Tisch weg hinaus auf die Straße, flüchtete wie ein Schaf, das sein Siegel eingebrannt bekam und erst Schritt für Schritt den Schreck überwand.
So war die Mutter, ehrlich und streng, und sie konnte auch Marias Tränen trocknen, mit Güte, die genauso ehrlich war. Sie legte Maria den Arm um die Schultern, als sie wieder zurückgefunden hatte und neben ihr am Tisch saß. Aus der Werkstatt tönte das Klappen der Webstühle, der schlurfende Schritt der Frau Vobbe entfernte sich, und Maria blieb mit ihrer Mutter allein im Raum, die sagte:
»Es wird alles werden, Kind, aber falsche Hoffnungen bringen dir nichts ein. Wir verhungern schon nicht, und in allem andern müssen wir uns eben bescheiden.«
Dieses Wort »bescheiden«, hatte für Maria den trockenen, spröden Beigeschmack einer Hand voll Heu. Es lag ihr auf der Zunge, diese ewige Bescheidenheit bei der Mutter anzuklagen, doch Klagen vertrug die Mutter nicht.
Wir müssen uns bescheiden! Dies sagten die Mutter, der Vater, die Vobbe, der Pfarrer, der alte Schuster Mund, der Schneider Tollen, der Briefträger Schilling, der genügend Trinkgelder bekam, und sogar die Dirnen, die die