»Sagt mal, wie ist diese Jenny denn so?«, fragt Simon, während er sich neugierig nach vorne beugt. »Ich meine, ihr kennt sie doch schon länger, oder? Plaudert doch mal ein bisschen aus dem Nähkästchen!«
»Warum bist du denn nicht gleich bei Ralf und Luisa im Auto mitgefahren? Da hättest du alle Zeit der Welt gehabt, Jenny besser kennenzulernen«, grinst Steffen. Erneut wandert sein Blick zum Innenspiegel, dann zu seiner Frau.
»Sie ist eine gute Freundin von Ralf und Luisa«, sagt Kirsten, während sie weiterhin sorgenvoll auf die verschneite Straße starrt. »Soviel ich weiß, hat sie sich vor ’nem guten halben Jahr von ihrem langjährigen Freund getrennt. Danach ist sie wohl nach Frankfurt gezogen.«
»Stimmt! Wir haben sie selbst erst vor knapp drei Monaten kennengelernt«, pflichtet Steffen ihr bei. »Scheint aber ’ne ganz Nette zu sein. Gut aussehen tut sie jedenfalls.«
»Aha! Seit wann stehst du denn auf Blondinen? Das ist ja ganz was Neues …«
»Ich stehe nicht auf Blondinen, Schatz. Ich sage nur, dass sie gut aussieht. Das ist ein himmelweiter Unterschied«, verteidigt sich Steffen sofort.
»Blödmannsgehilfe …«
»Selber Blödmannsgehilfin!«
»Könnt ihr zwei Kindsköpfe mal beim Thema bleiben? Was wisst ihr denn noch über diese Jenny?«
»Sie hat mal erzählt, dass sie Hunde mag. Außerdem geht sie gerne tanzen. Am liebsten lateinamerikanisch. Ach ja, Kino, lange Spaziergänge und gutes Essen mag sie auch.«
»Wie? Mehr wisst ihr nicht? Ich dachte, ihr würdet sie besser kennen?«, sagt Simon. Enttäuschung schwingt in seiner Stimme mit. »Was macht sie denn beruflich?«
Steffen furcht grübelnd seine Stirn und fährt sich mit der Hand durch das dichte, braune Haar. »So genau wissen wir das gar nicht«, sagt er nachdenklich und blickt dabei zu Kirsten.
Kirsten zuckt zur Antwort nur mit den Schultern, schüttelte ihr langes, lockiges Haar; sie schaut zuerst ihn, dann Simon an. »Keine Ahnung, was sie macht. Ist das denn wichtig, für dich?«
»Ja … nein … ach, ich weiß auch nicht«, druckst Simon herum. »Der Beruf sagt halt einiges über einen Menschen aus.«
»Gott, bist du spießig …«
»Luisa und Ralf haben einmal erwähnt, sie sei Therapeutin und arbeite mit stark traumatisierten Menschen. Genau weiß ich es aber nicht. Frag sie doch am besten selbst, wenn sich die Gelegenheit dazu ergibt«, meint Steffen. Er schaut erneut in den Innenspiegel und zwinkert verschwörerisch mit dem rechten Auge.
»Also ist sie ’ne Psychologin oder was?«
»Keine Ahnung«, brummt Steffen geistesabwesend. Er ist abgelenkt. Das Wetter hat sich in den letzten Minuten dramatisch verschlechtert. Dicke Schneeflocken tanzen durch die Luft. Sie erobern die schmale Straße, die Autoscheiben und den felsigen Untergrund. »Ist das auch der richtige Weg? Bist du dir sicher, dass wir uns nicht verfahren haben?«, fragt Kirsten und blickt sorgenvoll aus dem Seitenfenster.
»Laut unserem Navi sind wir goldrichtig. In sechshundert Metern müsste eine Abzweigung kommen. Da geht’s dann rauf zum Hölzle-Hof.«
»Noch weiter rauf?«, fragt Kirsten entsetzt. »Also ich weiß ja nicht, wie ihr das seht, aber mir ist bei dem vielen Schnee echt mulmig zumute. Ich komme mir vor, als wären wir nicht mehr auf der Erde, sondern würden auf einem fremden Planeten herumirren. Wie verschroben muss eigentlich jemand sein, um hier oben das ganze Jahr über zu leben? Schnee, Schnee, nix als Schnee …«
»Ist Ralf eigentlich noch hinter uns?«, fragt Steffen, ohne auf die Bedenken seiner Frau weiter einzugehen. »Ich kann ihn im Rückspiegel nicht mehr sehen. Gott, der Schnee wird ja immer dichter. Was für ein Sauwetter.«
»Warte, ich schau«, brummt Simon und späht erneut aus der Heckscheibe.
»Hoffentlich hat er sich nicht irgendwo festgefahren. Das würde jetzt gerade noch fehlen«, schnauft Steffen besorgt.
»Nee, ich kann ihn auch nicht … warte, jetzt sehe ich ihn. Ist ein gutes Stück zurückgefallen, kämpft sich aber tapfer weiter nach oben mit seiner Karre«, berichtet Simon im Stile eines Moderators aus dem Fond ihres Wagens.
»Steffen, ich hab echt Schiss. Wollen wir nicht lieber umdrehen? Kannst du bei dem Sauwetter überhaupt noch sehen, wo die Straße entlang führt?«
»Ja, gerade noch so. Ich verstehe das nicht. Ich habe doch gestern noch mit dem Hölzle telefoniert, und er hat mir versichert, dass für heute Mittag keine nennenswerten Schneefälle gemeldet sind«, beschwert sich Steffen, während er sich verstohlen die schweißnassen Hände an seiner Jeans abwischt. »Wenigstens weißt du jetzt, wie sich dein neues Auto im Schnee verhält«, flachst Simon lachend. »So viel kristallines Wasser fällt in Frankfurt das gesamte Jahr über nicht. Ist das fett! Echt große Klasse.«
»Letztes Jahr haben sie den Flughafen doch auch zwei Tage wegen starken Schneefalls geschlossen. Kannst du dich daran noch erinnern, Simon?«
»Klar, ist doch während meiner Schicht passiert. War aber Kinderkacke gegen das Wetter hier. So’n Schneefall bei uns in Frankfurt und die Oberbürgermeisterin würde den Notstand ausrufen.«
»Mach langsam, Steffen. Ich glaube, da vorne ist was.«
Aus dem dichten Weiß blinkt ihnen ein orangefarbenes Licht entgegen. Erschrocken tritt Steffen auf die Bremse und weiß im selben Moment, dass er einen Fehler begangen hat. Jetzt zeig, was du kannst. Du hast alles im Griff …, denkt er, während er versucht, den ausbrechenden Rover wieder unter Kontrolle zu bringen.
Das Antiblockiersystem pulsiert unangenehm unter seiner dicken Schuhsohle. Schlitternd kommt das Fahrzeug zum Stehen. Etwas schrammt mit einem für Steffen bösen Geräusch über den Lack der Beifahrerseite. Einen Sekundenbruchteil später rutscht der Rover ein paar Meter quer die Straße hinunter. Ein blechernes Krachen geistert durch den Innenraum, gefolgt vom Splittern von Glas. »Himmel, mein Herz«, stöhnt Kirsten mit aschfahlem Gesicht.
»Nein … verdammt, das darf doch nicht wahr sein!«, flucht Steffen und stößt die Tür auf.
Eisige Luft strömt in den Innenraum, der sogleich die ersten Schneeflocken folgen. Groß, pappig, nass. Eine kleine Armee von Invasoren, die ihren Rover nun auch von innen in Beschlag nehmen wollen.
»Herrje, was für ne Schei… Schlamassel«, schimpft Steffen, während er sich aus dem Wagen schwingt. Durch das dichte Schneegestöber dringt das tiefe Brummen eines untertourigen Motors. Ein dünnes Scheinwerferpaar zittert durch die weiße, fast schon steril wirkende Landschaft. Bremsen quietschen, eine Tür wird geöffnet und wieder mit einem dumpfen Ploppen geschlossen.
Steffen hört dies alles mehr, als dass er es sieht. Seine Augen tränen von der Kälte und durch das dichte Schneetreiben erscheint ihm alles irreal, fast so, als hätte ihn jemand in eine Schneekugel gesperrt.
»Hey, alles klar bei euch? Was issen passiert?« Ralfs Stimme, aus dem Nichts der weißen Invasion.
»Wir sind blöderweise ins Rutschen gekommen«, ruft Steffen ihm zu, während er vorsichtig die ersten Schritte im Schnee wagt. Knöcheltief, weich und nachgiebig. Lose aufeinandergeschichtete Eiskristalle. Kalt, gefühllos und abweisend. Wie die Umgebung, die im dichten Schneetreiben nur als verschwommene Kontur zu erahnen ist.
»Schatz, kannst du die Tür bitte schließen. Es ist saukalt, der ganze Schnee weht ins Auto.« Die Stimme seiner Frau. Ängstlich, vorwurfsvoll, anklagend.
»Warte, ich steige mit aus. Wie klappt man denn den verdammten Sitz nach vorne?« Simons Stimme. Ernst, besorgt, kein unterschwelliges Lachen klingt mehr in ihr nach.
Steffen gibt keine Antwort. Er stapfte durch den Schnee, ignoriert die Kälte, wünscht sich nichts sehnlicher,