Susanne 1955
Ralph und ich spielen oft zusammen, wenn Mutti und ich bei Tante Ruth zu Hause sind. Wenn die beiden über die Filme sprechen, die sie besucht haben, und Ralphs Oma davon erzählen, tun wir aber oft nur so, als würden wir spielen. In Wirklichkeit hören wir genau zu und wollen jedes Wort verstehen. Wenn sie von ihren Abenteuern mit Männern erzählen, ist das für uns besonders interessant — für unsere Mütter das wichtigste Thema überhaupt, denn beide suchen einen Mann, der sie heiratet. Wir hätten dann endlich auch richtige Väter und wären nicht mehr schuld an der Misere. Mutti hat schon oft gesagt, ich sei schuld an der Misere, weil kein gescheiter Mann eine Frau mit Kind heiraten wolle. Einmal hat sie sogar gesagt, ich hätte ihr ganzes Leben verdorben. Das hat mich sehr traurig gemacht, ich kann doch nichts dafür, dass ich da bin. Deshalb ist es wichtig, dass ich alles verstehe, was die Erwachsenen reden. Vielleicht begreife ich dann besser, warum ich so böse bin und schuld am Unglück meiner Mama habe.
Wenn ihr das Publikum fehlt, nimmt sie auch mit mir vorlieb. Ich lerne dabei sehr viel. Über die Männer weiß ich schon Bescheid. Die mit den wulstigen Lippen, das merke ich mir, die soll ich später einmal meiden, die sind irgendwie schlecht. Aber die, die eine Frau genauso behandeln wie die eigene Mutter, das sind die Guten. Das hat Mama von Frau Teichmann gelernt. Die ist eine wichtige Person bei der Gewerkschaft und in der Politik und sehr gescheit. Sie weiß alles und ist eine schöne Dame. Wenn sie am Sonntag in die Kirche geht, in die Spätmesse so wie wir, trägt sie ein elegantes Kostüm oder ein weit schwingendes, duftiges Sommerkleid mit passendem Hütchen und Spitzenhandschuhe. Sie kommt meistens ein bisschen zu spät und geht dann nicht bescheiden in die hintere Bank wie andere Leute, sondern schreitet graziös den Mittelgang entlang. Ihre hohen Stöckelschuhe machen Klick-Klack auf dem Steinboden, und alle drehen sich nach ihr um. Wenn der Stadtpfarrer vor der Wahl darauf hinweist, dass ein guter Katholik ja wisse, welche Partei er zu wählen habe, nämlich die mit dem ‚C’ im Namen, dann ärgert sich Frau Teichmann. Sie ist nämlich Mitglied in einer Partei ohne ‚C’. Sie ärgert sich dermaßen, dass sie noch während der Predigt unter Protest wieder den ganzen Mittelgang entlang, mit noch lauterem Schuhgeklapper, die Kirche verlässt und das schwere Hauptportal mit einem Knall zufallen lässt.
Auch über alle anderen wichtigen Zusammenhänge in der Welt werde ich aufgeklärt, ich bin nämlich ein dankbares und wissbegieriges Publikum, das sein Wissen weitergibt. Meinen Freundinnen und Cousinen, auch Ralph, der vieles nicht weiß, weil er ein Junge ist, gebe ich Nachhilfe. Mutti findet nämlich, dass man als Mädchen so früh wie möglich über die Sachen Bescheid wissen muss, die sich zwischen Männern und Frauen abspielen, wenn sie allein sind. Ich weiß jetzt schon, dass der Mann der Frau das Kind in den Bauch hineinlegt, und dass sie es dann ausbrütet. Darüber bin ich mit meiner Freundin Ulrike in Streit geraten, denn deren Mutter hat ihr etwas ganz anderes erzählt. Ich lachte sie aus, weil das wirklich lächerlich ist, und weil meine Mama das gewiss besser weiß.
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