Rede bitte weiter, aber erzähle jetzt wirklich von Dir!“
Luna sagt:
„Die Erniedrigungen waren für mich eine Entschuldigung mir selbst gegenüber. Dafür, dass ich machtlos war, hilflos, ohnmächtig. Sie waren ein Grund, bei mir selber damit hausieren zu gehen, mir selber Mitleid zu schenken, wenn es sonst niemand tat, da ja auch niemand davon wusste. Es war die Angst, nicht mehr geliebt zu werden, wenn ich nicht mehr erniedrigt würde. So wie es heute die Angst vor einem gesunden Leben ist, die mich denken lässt, ich würde dann nicht mehr geliebt, nicht mehr akzeptiert. Ich kann nicht beschreiben, was das Gefühl, erniedrigt zu werden, mit einem macht, und es dann trotzdem anzunehmen, weil man glaubt, es muss so sein. Weil man glaubt, es ist gerecht und richtig so. Und weil man glaubt, es geht eben nicht anders...“
Giorgio antwortet:
„Kann man nicht einfach sagen, Du warst einsam, alleine und mit dem Rücken zur Wand? Du wolltest geliebt werden, um jeden Preis und sei er noch so hoch...“
Luna sagt:
„Ich habe oben gesagt, ich hätte diese Erniedrigungen genossen, hätte es so gewollt. Ich war immer in einer Art banger Hoffnung, Aidan würde mir die Entscheidung über Leben und Tod abnehmen. Weil ich selbst eigentlich immer zu feige war. Bis auf den einen Suizidversuch ist es immer nur beim Reden geblieben. Ein Sterbensangebot hätte ich gerne entgegen genommen. Ich habe es bei Aidan oft provoziert und auch die Gefahr, so wie auch oft in der Altstadt, wenn ich dort unterwegs war. Immer hoffend, man nähme mir die Entscheidung ab.“
Giorgio antwortet:
„Du hast damals wieder einmal Dein Leben jemand anderem in die Hände gegeben, obwohl Du eigentlich viel besser, als alle andere damals, für Dich hättest sorgen können. Aber Du hattest einfach nicht mehr alleine die Kraft dazu und die Sicherheit Deines Elternhauses, die Dir so viel bedeutet hat, war Dir schon mit dem ersten Missbrauch verloren gegangen.
Du hast versucht mit Deiner Liebe zu Aidan einen Ersatz zu schaffen und er hat dann Deine Liebe erbarmungslos missbraucht.
Hast Du damals gedacht, er würde Dich wenigstens in dem kurzen Moment lieben, wenn er Sex mit Dir gemacht hat, konntest Du Positives daraus gewinnen?“
Luna antwortet:
„Sex war für mich von Anfang an auch mit Aidan einfach nur widerwärtig. Aber anfangs habe ich mich nicht so sehr gewehrt, weil ich dachte, es müsse eben so sein, ich war ja völlig unerfahren darin. Später war ich einfach immer nur wieder „die Leiche“, so wie damals, zehn Jahre früher. Habe es mit mir machen lassen, habe mich nicht bewegt. Und habe dabei gehofft, es geht vorbei. Gehofft, es geht schnell vorbei... Ja, eine Strafe war es von Anfang an. Jedes Mal, wenn ein Penis in mich eindringt kommt es mir vor, als würde ich mit einem Messer aufgeschlitzt und in der Körpermitte gespalten. Wenn jemand meine Brüste berührt muss ich denjenigen von mir wegdrücken, weg stoßen, manchmal ist mir sogar schon dabei die Hand ausgerutscht...“
Giorgio antwortet:
„Das unklare Erleben des Unangemessenen lässt in Dir Scham und Ekel aufkommen, das ist durch Deine Vorgeschichte bedingt. Aber nicht Du musst Dich schämen, sondern zwei andere...
Hast Du damals nicht daran gedacht, Dich Deinen Eltern anzuvertrauen?“
Luna antwortet:
„Nein, nach Hause gehen konnte ich nicht. Es wäre gegen meinen Trotz gewesen. Den Triumph hätte ich meinen Eltern niemals gegönnt. Ich hätte und habe es bis zum bitteren Ende durchgezogen. Und wenn er mich zehnmal am Tag vergewaltigt hätte !!!“
Giorgio insistiert:
„Noch einmal: Kann man nicht einfach sagen, Du warst einsam, alleine und mit dem Rücken zur Wand? Hat Aidan Dir nicht auch noch dauernd Deine Schuld eingeredet, um Dich zu drücken?“
Luna antwortet:
„Ja, das stimmt, er war gut im Schuld einreden. Er hat immer etwas gefunden, um mich zu überreden, mich von meiner Schuld zu überzeugen.
Und er hat es immer wieder geschafft. Ich kam aus einer guten Familie, habe eine gute Erziehung genossen, wusste, was richtig und was falsch war. Und trotzdem war das alles möglich?
Ich habe die Drogenszene kennen gelernt, habe gesoffen, mich geschlagen, war kurz davor, nicht mehr leben zu wollen. Welcher Schutzengel hat mich davor bewahrt? Und warum? Warum???
Ich habe viele Menschen kennen gelernt, zwei davon sind an Drogen gestorben. Ich war da!!! Habe es gesehen, mit ihnen gelitten und konnte keinem von Beiden helfen.
Und einer der Bösen, Aidan, lebt und hat sogar auch noch Kinder. Ich wünschte mir, er wäre tot, anstatt dieser zwei lieben Menschen...“
Giorgio antwortet:
„Du warst da, aber Du warst leider nicht Du! Aidan hat das in keiner Form mehr zugelassen und Du warst nicht in der Lage Dich davon zu befreien!
Es geht doch heute im Kern nur darum, Dich wieder zu DIR zurückzuführen, Dir das Gefühl für Dich selbst wieder zurück zu geben!
Jeder von uns hat seinen Schutzengel, es liegt an uns ihn zu spüren, ihn gewähren zu lassen!
Aidan hat eine große Schuld auf sich geladen, nehme jetzt nicht einfach seine Schuld auf Deine Schultern, sondern lasse ihn seine Schuld alleine tragen, lasse es seine gerechte Strafe bleiben!“
Lunas Drang, zu helfen und zu lieben war immer stark, oft mächtiger, als sie selbst. Er war früher über lange Jahre übermenschlich groß. Ein tiefer, oft peinigender innerer Druck, der immer wieder erfüllt, befriedigt werden musste, sonst hätte Luna ihm irgendwann nicht mehr standhalten können. Ihre Kindheit bestand aus der Adaption von Heldentum, Unverletzlichkeit, Unerreichbarkeit. Nur so konnte sie alles, aber auch alles für andere geben und sich selbst dabei vergessen. Es ist eine naive Ansicht der Dinge, die, das weiß sie, auch heute noch in ihr steckt, allerdings dort völlig abgeschottet ist. Sie weiß nicht, ob sie es jemals wiederfinden kann, jemals wiederfinden WILL! Und Lunas Gedanken wandern weiter zurück, zurück zu der Zeit, als ihr die Sicherheit ihres Elternhauses, die Geborgenheit, die sie daraus schöpfte, für immer genommen wurde, genommen durch ihren eigenen Bruder, er hat sie seiner Schwester genommen, der gewählte Name Sorella (Schwester) kommt jetzt wieder bitter in Lunas Bewusstsein.
Luna war damals erst neun Jahre alt und sexuell noch völlig naiv und unaufgeklärt. Es war an einem späten Nachmittag im Herbst, kurz nachdem die Eltern weggegangen waren. Wohin, weiß Luna heute nicht mehr. Damals war es, dass ihr Bruder auf die Idee kam, den Krimi nach zuspielen, den sie neulich abends, zusammen mit den Eltern, angeschaut hatten. Den, in dem Luna jetzt eine nackte Leiche spielen muss. Eine Matratze vom Bett wurde auf den Boden gelegt. Deren Kühle und das Kratzen des Reißverschlusses hat Luna auch später immer wieder an sich spüren müssen. Sie weiß noch, dass sie versucht hat, sich nicht zu bewegen. Zum einen, weil sie eine Leiche war, zum anderen, weil all das etwas mit ihr machte, was sie in keiner Form einordnen konnte. Die unterdrückten Stöhngeräusche sind auch heute noch für Luna eine einzige akustische Qual.
Auch erinnert sie sich noch an eine Fahrt in den Urlaub mit den Eltern. Sie hat während dieser Fahrten schon immer auf der Rückbank liegend geschlafen, den Kopf im Schoß ihres Bruders. Nur in diesem Jahr wurde es anders. Jetzt griff er unter ihr T-Shirt, fasste sie dort an und drückt ihr seinen Daumen in den Mund. Damals fühlte Luna, dass auch ihre Eltern sie nicht davor schützen könnten, dass sie schutzlos ist, auf sich alleine gestellt.
Also