Die kleine Insel am Ende der Welt. Richard Mackenrodt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Richard Mackenrodt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738028805
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schwieg, während sie mit Simone auf das Taxi zuging, das vor dem Messegelände wartete. Bei jedem Schritt verursachte der Kaugummi unter ihrer Schuhsohle ein unüberhörbares Schmatzen.

      »Ich hab mich noch nie jemandem so nahe gefühlt«, sagte Chiara leise, damit die Männer, die den Pavillon bauten, es nicht hören konnten. »So viel Vertrauen zu jemandem gehabt. Er hat sogar heimlich ein Feuerwerk für mich vorbereitet, ist das nicht total süß?«

      Wieder sagte Lisa nichts. Ihre Assistentin hielt ihr die hintere Tür des Taxis auf.

      »Ich hab echt Glück, oder?« fragte Chiara.

      Lisa überspielte ihr inneres Unbehagen und hätte ihre Worte am liebsten in Streifen geschnitten und verbrannt, als sie sagte: »Das hast du wirklich.« Dann wandte sie sich an Simone. »Wenn irgendwas ist, rufen Sie an. Aber Sie kriegen das schon hin.«

      Simone nickte und lächelte unsicher. Lisa stieg ein, das Taxi fuhr los.

      Im selben Moment kam 1.400 Kilometer entfernt ein kleines, bildhübsches Mädchen angelaufen, mit wippenden, schwarzen Zöpfen. Die Kleine hüpfte zu Chiara auf die weiße Mauer und schnappte sich, ohne zu fragen, das Telefon.

      »Weißt du schon, Tante Lisa? Bei der Hochzeit bin ich Blumenmädchen!«

      »Francesca?!« Lisa glaubte, sich verhört zu haben. »Seit wann sprichst du denn Deutsch?«

      »Alle sagen, Mamma kann so gut parlare andere lingue. Ich will noch besser können.«

      »Sie zwingt ihre Mutter ständig, mit ihr Deutsch zu reden«, lachte Chiara. »Und mich auch.«

      »Ja, liebe Francesca, dass du Blumenmädchen wirst, weiß ich schon«, sagte Lisa.

      »Freu ich mich auf dich!« rief Francesca. »Tantissimo

      »Ich mich auch, meine Kleine. Tantissimo.« Lisa zog sich ein Laubblatt von der klebrigen Sohle.

      Francesca sah, wie ihre Mutter aus dem Haus kam, und versuchte, sich hinter Tante Chiara zu verstecken, aber Maria sah sie trotzdem.

      »Francesca, du hast nicht aufgegessen!«

      »Non ho fame

      »Du kommst jetzt her und isst auf! Man steht nicht einfach auf und geht, wenn man keine Lust mehr hat!«

      »Mamma!«

      »Francesca!«

      Francesca zog eine Schnute und raunte Chiara zu, ihre Mamma sei immer so ernst und lache viel zu wenig. Chiara raunte zurück und riet Francesca, der Aufforderung ihrer Mutter lieber Folge zu leisten. Das Mädchen hopste von der Mauer und trottete unwillig zu seiner Mutter. Als die Kleine mit Maria ins Haus ging, stand eine ältere Dame in der Tür und tätschelte ihr im Vorbeigehen liebevoll den Kopf. Sophia Buffonacci sah aus, wie man sich eine italienische Mamma vorstellte – drall, lebensfroh und resolut. Sie blieb vor dem Haus stehen und sah sich an, was die Männer bisher zustande gebracht hatten. Gaetano wollte von Marias Bräutigam gerade wissen, ob man in Deutschland wirklich Hau den Lukas sagte. Sein Akzent war wesentlich stärker als der seiner kleinen Nichte. Lukas nickte zustimmend. Gaetano grinste und sagte: »Wenn ich dich mal verprügeln muss, werde ich es sagen: Hau den Lukas.« Er fand das offensichtlich unfassbar komisch und gab seinem Schwager in spe einen freundschaftlichen Schlag gegen die Schulter. Lukas gab sich Mühe, den Schmerz zu unterdrücken, und lächelte gequält. Gaetano zwinkerte grinsend, um keinen Zweifel daran zu lassen, dass das natürlich ein Scherz gewesen war.

      Lisa saß im Taxi, hatte ihren Schuh in der Hand und sah sich die schwer in Mitleidenschaft gezogene Sohle an.

      »Wozu braucht man Sekundenkleber, wenn es solche Kaugummis gibt?« murmelte sie. Aber in Wirklichkeit war das kleine Desaster unter ihrer Sohle für sie nur ein Blitzableiter. Was hatte sie hier verloren? Und was in Linosa? Es gab nur eines, was sie dort tun konnte, und das kam nicht in Frage. Dafür war es zu spät. Aber sie konnte auch nicht tun, als wäre alles in Ordnung. Oder doch? Sie blickte aus dem Fenster. Das Taxi stand im Stau. Das wäre doch eigentlich das Einfachste. Jetzt im Verkehr stecken bleiben, der Flieger wäre weg, und sie könnte es nicht mehr rechtzeitig schaffen. Lisa dachte nach: Wenn sie feige wäre, würde sie es jetzt genauso machen. Ihre beste Freundin würde zwar traurig sein, aber trotzdem eine schöne Hochzeit haben. Aber war sie nicht sowieso schon erschreckend feige? Ausgerechnet sie – Lisa Bürger, die in der Firma gerne kleine Predigten hielt, in denen sie die Mitarbeiter zu ehrlichem und offenem Umgang aufforderte? Sie durfte hier jetzt nicht einfach davon laufen. Lisa beugte sich vor.

      »Können Sie vielleicht irgendwo überholen?« fragte sie den Taxifahrer.

      »Is verboten«, antwortete er mit dem starken oberbayerischen Akzent eines Mannes, den man eher hinter dem Steuer eines Traktors vermutet hätte.

      »Ich leg auch was drauf«, sagte Lisa.

      Der Fahrer drehte sich zu ihr um. Er war fett. Nicht nur ein bisschen pummelig. Seine Stirn glänzte, unter den Achseln hatte er dunkle Flecken. Es war ein warmer, schwüler Sommertag. Vielleicht würde es heute noch ein Gewitter geben. Er sah Lisa an, als habe sie ihm gerade einen völlig indiskutablen Antrag gemacht.

      »Wann mi jemand anzeigt, bin i’d Lizenz los.«

      »War ja nur eine Frage«, entschuldigte sich Lisa.

      Ein dünner Mann auf einem Elektrofahrrad schlängelte sich an den gestauten Autos vorbei. Er war von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet, trug vorsorglich eine dünne Regenjacke und eine Wasser abweisende Baseballkappe. Auf dem Rücken hatte er einen kleinen, schwarzen Rucksack. Der Taxifahrer sah den Mann im Rückspiegel herannahen. Er wollte aber nicht, dass der Radler ihn überholte und fuhr dicht an den Bordstein heran, um ihm die Durchfahrt zu verwehren. Der schwarz gekleidete Fahrradfahrer ließ sich davon nicht abhalten und fuhr trotzdem an dem Taxi vorbei. Dabei berührte seine linke Pedale die Karosserie des Wagens und schrammte daran entlang.

      »Ja, sauber«, sagte der Taxifahrer.

      Der Fahrradfahrer stoppte sein Gefährt und sah sich um. Das Taxi hatte einen langen, unschönen und sehr deutlich sichtbaren Kratzer davon getragen. Er warf einen Blick auf das Nummernschild.

      »Oh nein«, stöhnte Lisa. »Für sowas ist doch jetzt keine Zeit.«

      Der Taxifahrer löste seinen Gurt, öffnete die Fahrertür und begann in aller Ruhe damit, sich aus dem Sitz heraus zu quälen – was bei seiner Körperfülle keine Kleinigkeit war. Da nahm der Fahrradfahrer den Fuß von der Straße. Und fuhr einfach weiter.

      »Der türmt«, sagte der Taxifahrer, und im nächsten Moment kam Bewegung in den Koloss. Mit erstaunlicher Schnelligkeit wuchtete er seinen massigen Körper aus dem Wagen.

      »Hundskrippi!« rief er. »Hier bleibst, oda i zeig di an, du Sauhund!«

      Aber der Fahrradfahrer trat fest in die Pedalen, und dazu schnurrte leise der kleine Elektromotor, der sich im Hinterrad befand.

      »Ja, leckst mi am Oasch!« brüllte der Taxifahrer, und seine Fettpolster erbebten. Das Taxi wankte, als er sich auf seinen Sitz zurückfallen ließ.

      »Vielleicht gibt es eine andere Route, auf der es schneller geht?« fragte Lisa.

      Aber der Taxifahrer beachtete sie überhaupt nicht. Er drückte einen Knopf unter dem Radio, und es meldete sich eine raue, weibliche Stimme.

      »Zentrale. Was gibt’s, Staudinger?«

      »I hob wos zum Melden.«

      Auf einmal ertönten die ersten Akkorde von Stairway to Heaven – das Handy des Fahrers, das in der Freisprecheinrichtung klemmte, meldete sich. Er nahm das Gespräch an und bellte: »Staudinger!«

      »Grüß Gott, Herr Staudinger, mein Name ist Schmidtbauer. Ihr Fahrzeug ist gerade beschädigt worden?«

      Franz Staudinger wusste nicht, was ihn mehr verwirrte – die seidenweiche Stimme dieser Frau am anderen Ende der Leitung, oder das, was sie sagte.

      »Freili«,