Ebenso lässt sich gut vermitteln, dass Kontextvariablen solche automatisiert ablaufenden Prozesse über Phänomene des zustandsabhängigen Lernens anstoßen können (siehe den entsprechenden Teil im Anhang unter Suchtinformation, Kapitel 8.1). „Wenn ich wieder in der Kneipe sitze, fällt mir leichter wieder ein, was ich in der Kneipe erlebt habe.“
Eine weitere Überlegung betrifft den Transfer von Informationen aus den Bedingungen der Therapie in das Alltagsleben des Patienten. Wenn ein Patient nach der Behandlung in einer als riskant identifizierten Situation ist, sollten die Bemühungen um vermehrte Selbstkontrolle (mit dem Ziel des Erhaltes der Abstinenz) zunehmend automatisierter ablaufen. Gleiches gilt für intrapsychische Zustände, die als kritisch identifiziert wurden (siehe auch Kapitel 3.2 „Individuelle Therapieziele“).
Grawe (1998) ordnet die Befunde zur Gedächtnisforschung so, dass die eben beschriebenen Phänomene dem expliziten oder konzeptuellen Gedächtnis zuzuordnen seien. Der weniger zugängliche Teil des Gedächtnisses wird bei Grawe implizit oder prozedural genannt. Der Zugriff auf diese Teile kann „nur prozedural aktiviert“ werden (Grawe, 1998, S. 240, Hervorhebung im Original).
Es wird sich also nach der Behandlung der einzelne Patient mit erhöhter Wahrscheinlichkeit an einige Gedächtnisinhalte aus der Therapie besonders gut erinnern, wenn er in gleicher Weise wie in der Therapie ritualisiert in einem Gesprächskreis mit anderen, unter Leitung eines Therapeuten, zusammensitzt; oder wenn sich in seinem Alltagsleben eine Situation ergibt, die große Ähnlichkeit mit dem Ritual des Einzelgespräches aus der Therapie hat.
Diese Überlegung spricht dafür, möglichst viele Anteile des Erlebens von Patienten an Situationen zu binden, die im Alltagsleben des Patienten Entsprechung finden. Wenn also Gespräche in einer lockeren Atmosphäre stattfinden, wenn der Patient dabei an einem Tisch sitzt, dabei möglicherweise auch Kaffee trinkt und auch mal lacht (wenn es etwas zu lachen gibt), sollte die Wahrscheinlichkeit erhöht sein, dass er einen verbesserten Zugang zu den dabei abgespeicherten Gedächtnisinhalten hat, wenn er sich in seinem Alltag in ähnlich unbefangenen Situationen bewegt.
Wenn man den Argumenten von Grawe folgt, eröffnet sich durch eine lockere, eher am Alltagsverhalten des Patienten angepasste Vorgehensweise die Chance, die Rückfallwahrscheinlichkeit zusätzlich günstig zu beeinflussen. Die Wahrscheinlichkeit, dass der einzelne Patient auf Inhalte aus der Behandlung zugreifen kann, wäre auch außerhalb der als riskant identifizierten Situationen und der kritischen intrapsychischen Zustände erhöht.
1.2.4 Krankheitsmodell
In der Johanna-Odebrecht-Stiftung war im Laufe der Konzeptentwicklung entschieden worden, innerhalb eines bio-psycho-sozialen Krankheitsmodells zu intervenieren.
Die stark vereinfachende Abbildung unten macht deutlich, dass im Rahmen des klassischen medizinischen Krankheitsmodelles eine Intervention idealerweise gegen die Ursache der Störung gerichtet wird; symptomatisch wird nur dann behandelt, wenn die Ursache der Störung nicht zu beseitigen ist. Der Behandler ist innerhalb dieses Modells derjenige Fachmann, der die Symptome deutet und aus dieser Deutung einen regelgerechten Verlauf der Störung, die Intervention und einen regelgerechten Verlauf der Therapie ableitet. Das mit der Störung behaftete Individuum hat dann Compliance zu praktizieren.
Abbildung: bio-psycho-soziales Krankheitsmodell 4
In der Behandlung von Auffälligkeiten, die im Zusammenhang mit dem Konsum von Alkohol stehen, ist eine solche Behandlung solange nicht zu praktizieren, wie keine letzte Ursache der Störung festlegbar ist. Solange ein System von Bedingungen anzunehmen ist, in dem die Störungsentwicklung gefördert wurde, sind Ansatzpunkte zur Störungsbewältigung innerhalb dieses Systems zu suchen.
Ein bio-psycho-soziales Krankheitsmodell ist ein solches System, in dem verschiedene Variablen aus unterschiedlichen Variablengruppen zusammenwirken, um eine Störung aufrechtzuerhalten. Innerhalb dieses Modells werden die Anregungen von (verhaltenstherapeutischen) Problemlöse-Therapien bevorzugt. Grawe, Donati und Bernauer (1994) hatten in ihrer Meta-Analyse für solche Vorgehensweisen ein „ganz außerordentlich günstiges Wirkungsprofil“ gefunden. Die Autoren sehen die Selbstmanagement-Therapie als eine Problemlösetherapie an.
Die Entscheidung für die Selbstmanagement-Therapie war einerseits von der erwarteten Wirksamkeit eines solchen Vorgehens beeinflusst worden, andererseits wurde von der besonderen Rolle des Therapeuten in der Selbstmanagement-Therapie ein vermehrtes Erleben von Würde und Freiheit bei den Patienten erwartet. Außerdem bietet der Ansatz der Selbstmanagement-Therapie eine elegante Möglichkeit, über individuelle Plausible Modelle unterschiedlichste Erklärungsmodelle über das Entstehen von Abhängigkeit in die Behandlung zu integrieren.
1.3 Selbstmanagement-Therapie
Es ließe sich grundsätzlich diskutieren, ob es ein oder mehrere Alleinstellungsmerkmal(e) der Selbstmanagement-Therapie gibt. Für die Praxis der Rehabilitation wegen Alkoholabhängigkeit ist eine solche Diskussion entbehrlich. Es reicht für diese Darstellung, diejenigen Besonderheiten der Selbstmanagement-Therapie ausdrücklich zu benennen, die in unserer Behandlung verwirklicht werden. Weiterhin sollen Informationen über Grundlagen vermittelt werden, die den intendierten Therapieprozess fördern oder denen förderndes Potenzial zugeschrieben wird.
1.3.1 Beziehungen Patient-Therapeut
Die besondere Rolle des Therapeuten in der Selbstmanagement-Therapie beschreiben Kanfer, Reinecker und Schmelzer (2000) sehr ausführlich.
Sie sehen den Therapeuten als „Anreger/Katalysator für Veränderungen beim Klienten“ oder (an anderer Stelle) als „Impulsgeber bzw. Problemlöse-Assistent“.
In der 3. Aufl. von „Selbstmanagement-Therapie“ gehen Kanfer, Reinecker und Schmelzer auch auf die Wirkfaktoren ein, die Grawe (z.B. Grawe, Bernauer & Donati, 1994) in unterschiedlichen Arbeitsgruppen identifiziert hat:
aktive Hilfe zur Problembewältigung
Klärungsarbeit (z.B. hinsichtlich eigener Motivation)
Prinzip der realen Erfahrung (erfahrungsorientiertes Lernen) sowie
Ressourcenaktivierung (vor allem mittels unterstützender Therapeut-Klient-Beziehung).
Hierbei sind die beiden erstgenannten Prinzipien (in dieser Reihenfolge!) an bedeutsamsten (Kanfer, Reinecker & Schmelzer, 2000). Sie grenzen die Rolle des Therapeuten auch in deutlichen Worten ab gegenüber unrealistischen Erwartungen:
…, sind wir strikt gegen eine falsch verstandene Expertenhaltung oder ein autoritäres Überstülpen von Maßnahmen (Therapie wider Willen). Wir akzeptieren daher die Autonomie unserer Klienten, gewähren Ihnen ein Recht auf Widerstand und wenden uns gegen alle Versuche, Personen mit besonders hinterhältigen Tricks dazu zu bringen, das zu tun, was Therapeuten von ihnen wollen (ebd. S.7).
Mindestanforderungen an das Rollenverständnis der Therapeuten werden in Therapieausbildungen vermittelt (oder in einem On-Job-Training erworben).
Die besonderen Anforderungen der Selbstmanagement-Therapie an den Therapeuten wurden zusammengefasst in „Kanfers 11 Gesetze der Therapie“ (Kanfer, Reinecker