3 Die Begegnung
Das Ziel lag irgendwo in dieser langen Straße, in einem dieser einstöckigen, weißen , äußerst langweilig wirkenden Häusern. Sie betraten die Hofeinfahrt und hörten Töne: Selbige kamen aus einem Keller, dessen Türe offen stand, und welche auf einer ziemlich wild und roh bearbeiteten Geige erzeugt wurden. Philip konnte das Stück, das da „beübt“ wurde, sogar erkennen (obwohl das nicht ganz einfach war) - es handelte sich um einen Part aus Johann Sebastian Bachs Doppelkonzert für zwei Violinen: „Allegro“ - in dieser „Interpretation“ als brachialen Urgewalt. Mireille kam ihnen entgegen, als sie die Treppe hinuntergingen. Nach der herzlichen, mit Umarmung zelebrierten Begrüßung, nahmen sie an einem Camping - Tischchen in dem schmalen Gang Platz. An der Seite lehnten, dicht aneinander gedrängt, ziemlich große Bilder. Dahinter waren viele kleinere in Regale geschichtet. Auf dem Tischchen lockte ein großer dunkelbrauner Schokoladekuchen. „Jean hat den `schwarzen Tiger` extra für Euch gebacken“. Mireille lachte. Kaffee oder Tee? Jean kommt später. Er müsste noch üben, hat er gesagt, für morgen. Da spielt er zusammen mit seinem Freund - einem guten Geiger - der es ihm beibringen will. Er spielt erst seit einem dreiviertel Jahr. Das Doppelkonzert - das war schon immer sein Traum. Er übt wie verrückt! Sie lachte. Das ist so seine zweite Natur. Er meint, in ihm stecke ganz gewiss ein Künstler - und er müsste halt noch ausprobieren, wo seine größten Talente lägen. Er spielt auch Theater - in einer Amateurgruppe. Immer ziemlich wilde Typen - und hat damit sogar einen Riesenerfolg. Sie lacht. Denn er wirkt immer unglaublich komisch. Die Leute lachen sich kaputt über ihn. Das stört ihn aber nicht. Er hat Erfolg - das ist die Hauptsache. Er malt auch. Sie lachte wieder. Er wird Euch davon erzählen. Marina war noch nicht zufrieden; Und seine „erste“ Natur? Mireille lächelte. Er ist - - ein sehr guter „Hausmann“. Ich muss dafür - - das Geld verdienen.
Mireille steckte einen Tauchsieder in die Teekanne. Philip hatte nebenbei schon eine ganze Weile ein großes Bild im Auge, das ein paar Meter weiter ihm gegenüber an einer Wand lehnte. Das ist vielleicht ein guter Ausgangspunkt, dachte er. (Er hatte sich zu Hause schon einiges überlegt, wozu er Mireille - in einer sehr dezenten Weise natürlich - „intensiv befragen“ wollte). Von dem Bild hatte er „einen ersten, ganz passablen Eindruck“, und er würde es sich nachher aus der Nähe noch genau ansehen. Vor allem aber wollte er hören, was Mireille ihnen zu diesem Bild erzählen würde. Er begann also mit einer (in solchen Fällen recht typischen) vermeintlich unverfänglichen Frage: Ein neues Bild von Dir? (wobei er in Richtung des Bildes seinen Kopf ein wenig nach oben hob). Mireille erklärte, es sei bereits vor zehn Jahren - oder mehr – entstanden, und sollte jetzt endlich mal eine Firnisschutzschicht bekommen, Dann fragte sie: Was ist Euer Eindruck von dem Bild? - bitte ganz ehrlich! Marina reagierte spontan. Sie sei doch überrascht von der Schönheit des Bildes, ganz besonders auch, weil heutzutage kein Mensch (sie verbesserte sich lachend) - also nur noch wenige Künstlerinnen und Künstler etwas wirklich schönes malen wollten. Mireille meinte dazu, bei vielen Autodidakten, und eben auch bei ihr, stünden aber sicherlich eine ästhetisch ansprechende Form der Darstellung, die man, wenn man wollte, eben „schön“ nennen könnte, durchaus als ein zentrales Ziel vor Augen. Damit arbeiteten sie im Rahmen einer Tradition, die Jahrtausende Bestand gehabt hätte .Bis man merkwürdigerweise gerade in der heutigen Zeit im „elitären, professionellen Kunstbetrieb“ (Philip registrierte aufmerksam ihre Wortwahl) „beinahe gewaltsam“ versuche, diese Tradition zu beseitigen. Ein „positiv ansprechender Gesamteindruck“ sei letztlich das entscheidende bei der Gestaltung ihrer Bilder. Sie würde solange an ihnen arbeiten - manchmal käme es auch nach Jahren noch zu kleineren Korrekturen - bis sie alles als „stimmig“ empfände. Philip hatte kein Problem dabei, ihr zu sagen, dass auch er, bei seinem ersten Eindruck von diesem Bild, so etwas empfunden hätte. Gegenständlich, wie es sei, lade es ihn geradezu ein, darin spazieren zu gehen. Er stand auf und schilderte dann, vor dem Bild stehend, seine Eindrücke: Ich seh`s jetzt genauer - ein gigantisches Zahnrad, verrostet, zerbrochen - das steckt im Sand, in den Dünen einer Wüste. Ganz klein, im Vordergrund, ein sommerlich gekleidetes Paar, das hinwandert zu dem Zahnrad. Hierzu müsste allerdings noch eine tiefe Schlucht durchstiegen werden. Das Rad ist oben aufgebrochen, ist innen hohl, seine riesigen Zähne ragen seitwärts in den blauen Himmel. Mireille unterbrach ihn. Ihr seht dabei, wie viel Spielraum ins Abstrakte so eine gegenständliche Szenerie bietet - bei der Struktur des Rostes und des Himmels, zum Beispiel - oder auch für den ganzen Bildaufbau. Marina pflichtete ihr bei. Ja, auch beim Schatten, der auf den Betrachter zukommt und dann auf der linken Seite, wo ein Teil dieses Zahnrads aufragt, wandelt sich der blaue Himmel wie in den Anbruch der Nacht oder kündet ein Gewitter an. Mireille freute sich über den Zuspruch. Ja, es stecken da eine Menge an Gefühlen drin - auch solche, das zerbrochene Zahnrad betreffend, die mit der Entwicklung unserer Industriekultur zusammenhängen. Philip hatte inzwischen vor diesem linken Zahnradteil, in größerer Entfernung noch ein paar winzige Figuren entdeckt, die da irgendwie herumkletterten.