Da ließ Graf Adolf absitzen, um auf einem flachen Hügelrücken inmitten von freiem, feuchtem Gelände die Nacht zu verbringen. Das Zelt für den Herrn wurde aufgestellt, die übrigen wickelten sich in ihre Mäntel und legten sich auf den trockenen Boden, nachdem die Nachtwachen eingeteilt waren. Schließlich waren sie weit im Slawenland, und nicht jedem dieser heidnischen Barbaren würde das Fähnlein, das sie mitführten und nun vor dem Zelt ihres Herrn aufgepflanzt hatten, die nötige Ehrfurcht einflößen. Da war schon Vorsicht geboten.
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Der Gesang einer Feldlerche weckte die Schläfer, noch ehe die Morgensonne sich über die Baumwipfel am gegenüberliegenden Ufer emporgearbeitet hatte. Man verzehrte das Mitgebrachte, trank aus den ledernen Wasserflaschen, während Graf Adolf ein Schlauch mit Wein gereicht wurde. Den passenden Silberbecher führte Reginald stets griffbereit in seinem Gepäck. Dann gab der Schauenburger das Zeichen zum Aufbruch, und sie ritten auf einen dritten Bach zu, wo sie auf einen breiten Weg stießen mit vielen Spuren von Karrenrädern und Pferdehufen, die allerdings meist schon aus vergangenen Jahren zu stammen schienen. Die Straße führte geradewegs auf das Ufer der Trave zu, und fand am gegenüberliegenden Ufer ihre Fortsetzung.
Der Graf von Holstein hatte die Furt erreicht, über die ein einst viel genutzter Handelsweg vom Süden her über den Hügel Bucu nach Liubice führte. Reginald ritt vorsichtig voran, um zu prüfen, ob die Pferde ohne zu schwimmen das andere Ufer erreichen können. Die Furt erwies sich als flach genug, und die Reiter gelangten ohne abzusitzen auf die gegenüberliegende Seite. Dort allerdings mussten sie absteigen, denn ein Hang erhob sich steil über dem schmalen Uferstreifen. Oben angekommen, hielten sie überrascht inne: Ein mächtiger Erdwall versperrte den Weg. Allerdings waren auch hier die Palisaden verrottet, die Burg verlassen. Als sie den Wall umrundeten, gab es eine weitere Überraschung: Zur Linken zog in einem röhrichtbestandenen Sumpfgebiet ein zweiter Fluß in weitem Bogen gen Süden.
Einer der Knechte bat Graf Adolf, ihm das Wort zu erlauben. Auf seinen Wink hin begann er: „Edler Herr, ich bin sicher, dass wir hier am Zugang zu jenem Werder stehen, den die Wagrier Bucu nennen, und der von zwei Flüssen umgeben ist, der Trave und einem anderen, der Wochenitze, zu deutsch Barsch-Fluß, genannt wird. Man sagt, dass diese Burg einst von Fürst Kruto, dem grausamen Feind unseres Glaubens, als Zwingfeste am Zugang zu dem Werder genutzt wurde, denn der Weg über den Hügel führt zu einer Furt über eben diese Wochenitze, und auf ihm erreicht man den großen Elbefluß und das berühmte Bardowieck.“
„Woher weißt du das alles?“ fragte Adolf, und der Mann antwortete: „Ehe ich in Euren Dienst kam, edler Herr, gehörte ich zur Familia eines Fernhändlers in eben jenem Bardowieck, und ich habe ihn oft von seinen Reisen nach Liubice erzählen hören. Er hat diesen Hügel Bucu und den Lauf der beiden Flüsse stets anschaulich beschrieben, und alles passt genau zu dem, was Ihr hier seht.“ Der Graf nickte ihm gnädig zu und wandte sich dann an Reginald: „Es scheint, er hat recht, und meines Wissens haben unsere deutschen Händler irgendwo hier auch einen Stützpunkt mit einem Hafen an der Trave. Ich denke, wir suchen als erstes diesen Ort auf.“
Er gab das Zeichen zum Ritt, und als sie dem Weg folgten, der unterhalb der Burg nach Süden führte, stießen sie auf eine kleine Siedlung. Es waren jedoch nur slawische Bewohner dort, Fischer zumeist, deren Boote am Ufer jener Wochenitze vertäut lagen, und einige wenige Handwerker, die wohl einst für die Burgbesatzung gearbeitet hatten und sich nun notdürftig aus weitläufigen Gärten ernährten. Auch hier war manche Hütte verlassen und verfallen, mancher Garten überwuchert, doch waren keine Spuren einer Feuersbrunst zu entdecken, die auf einen feindlichen Überfall schließen lassen könnte.
Adolf verzichtete darauf, die Bewohner zusammenrufen zu lassen, er wollte die Burg und den anschließenden Höhenrücken erkunden. Der Ringwall war kleiner als jener in Liubice, die Burg erwies sich als rein militärische Anlage, und ihr Platz auf der schmalen Landenge war mit Geschick gewählt. Allerdings schien sie schon seit langem verlassen. Der Handelsweg führte auf der Kuppe des langgestreckten Hügels teils durch lichten Buchenwald, teils über freie Flächen mit niederem Strauchwerk, bis er sich mit weitgeschwungenem Bogen zum Flusstal der Wochenitze herabsenkte. Der Knecht hatte recht, es gab dort eine weitere Furt und jenseits eine Fortsetzung der Straße. Ein schmaler Pfad führte vor dem Übergang zur Rechten am Ufer entlang. Adolf schickte zwei seiner Männer dorthin, und sie kehrten rasch wieder zurück. Nur ein paar Fischerhütten hatten sie entdeckt, verborgen hinter einem Buchenhain.
Der Graf ließ wenden. „Dieser Werder ist ein günstiger Ort,“ sagte er zu Reginald, der an seiner Seite ritt. „Er ist nicht nur von Wasser umgeben, die Flüsse scheinen auch durch einen breiten, morastigen Schilfgürtel zu fließen, der den Hügel zusätzlich schützt. Und sein Rücken hat einen festen Boden, um dort Häuser und eine Kirche zu errichten. Auch der Burgwall könnte wieder ausgebaut werden. Doch das alles nützt uns nichts, wenn wir nicht ein festes Ufer für einen Hafen finden.“ „Als wir vorhin die Höhe erreicht hatten, sah ich einen Pfad, der nach Westen hin abzweigte,“ gab der Ritter zur Antwort. „Wir sollten ihm folgen.“
Adolf nickte, sie ritten wieder den Hügel hinauf, bis Reginald auf den versteckten Pfad wies, der zur Linken abzweigte, durch ein Waldstück führte und sich dann langsam senkte. Als die Bäume zurückblieben, erblickten die Berittenen eine Reihe von Blockhäusern, die jenen aus der Kaufmannssiedlung bei Liubice ähnelten. „Ich denke, wir haben gefunden, was wir suchen,“ sagte der Schauenburger und gab seinem Pferd die Sporen. In diesem Augenblick trat ein Mann aus einem der vorderen Häuser. Als er die Reiter sah und das Fähnlein erkannte, das Graf Adolf vorweggetragen wurde, zog er die Kappe und deutete eine Kniebeuge an. Seine Kleidung verriet, dass er keiner dieser wendischen Fischer und Bauern war, sondern offensichtlich eine Anzahl Silberlinge in dem Beutel verwahrte, den er am Gürtel trug.
Adolf zügelte sein Pferd. „Wer seid Ihr?“ fragte er. „Man nennt mich Hinrich von Soest, edler Herr,“ antworte der Fremde mit höflich gewählter Sprache, „und wenn ich euer Wappen richtig deute, seid Ihr Graf Adolf, Herzog Heinrichs Lehnsträger und unser neuer Herr. Als solchen darf ich euch mit Ehrerbietung und zugleich mit großer Freude begrüßen.“ Adolf sprang vom Pferd. „Ihr wisst eure Worte gut zu wählen, Hinrich von Soest. Was tut ein Mann wie Ihr an diesem einsamen Ort?“ „Ich bin Kaufmann, edler Herr, und treibe Handel mit den Dänen ebenso wie mit den Deutschen im Herzogtum. Zwei Schiffe besitze ich, die unten im Hafen auf eine weitere Reise warten.“ Und mit Blick auf die Sonne, die bereits tief am westlichen Himmel stand, fügte er hinzu: „Gedenkt Ihr hier auf Bucu zu nächtigen, Herr? Wenn es Euch gefällt, darf ich dem edlen Herrn meine bescheidene Behausung für einen ruhigen Schlaf zur Verfügung stellen.“
Graf Adolf trat auf ihn zu und legte ihm leutselig die Rechte auf die Schulter. „Ich nehme Eure Einladung gerne an, Hinrich,“ sagte er. „Und ich hoffe, Ihr werdet mir vieles berichten über diesen Ort und über den Handel, den Ihr treibt. Nur eines gleich vorweg: Warum wohnt Ihr hier und nicht in Liubice?“ „Ich hatte ein Haus dort – das heißt, ich besitze es noch immer. Doch Liubice ist kein Platz mehr für uns Kaufleute, seit Fürst Race es niedergebrannt hat. Es sind schwere Zeiten für uns Händler, auf See lauern die Ranen, an Land die Obotriten und die Wagrier, seitdem wieder Krieg herrscht zwischen Deutschen und Wenden. Ich hoffe, dass Herzog Heinrich, dass Ihr uns Frieden bringt, edler Herr.“
Adolf nickte: „Es ist meine Absicht, das Land der Holsten ebenso zu befrieden wie Wagrien. Ich werde keine Hoffahrt mehr dulden und kein eigenmächtiges Handeln, weder bei Deutschen noch bei den Wenden. Habt Geduld, Hinrich von Soest, bald wird dieses Land wieder blühen, und mit ihm Euer Handel. Doch nun zeigt mir Euer Haus, damit ich die Hausfrau gebührend begrüße, auch wenn ihr ein überraschender Gast Mühe bereiten wird.“ Hinrich neigte das Haupt, dann wies er mit einer Geste auf die Tür zu seinem Haus. „Erlaubt mir, dass ich vorangehe, obwohl es ungebührlich ist, Euch nicht den Vortritt zu lassen. Doch will ich meinem Weib bedeuten, Euch mit der nötigen Ehre zu begrüßen.“
Er trat kurz in das Haus, um dann erneut herauszukommen und den Gast herein zu bitten. In der Zwischenzeit hatten sich auch andere Bewohner versammelt und wahrgenommen, dass Graf