„Große Worte, wo bleiben die Taten? Während ich mich nach einem Kind sehne, dass durch uns in diese Welt tritt, reichst du mir prosaische Sätze, gleich einer Speisekarte, wo das köstlichste Mahl in aufwendigen Zeilen angeboten wird, der Kellner jedoch wenig später am Tisch seiner Gäste erscheint, nur um zu sagen: Es tut mir wirklich leid, genau dieses Menü können wir Ihnen nicht anbieten.“
Yasmin begann zu schluchzen und warf sich in die Arme Enricos. Seine Arme umfingen ihren bebenden Körper, der ihm heute zum ersten Mal zerbrechlich erschien. Wie liebte er diese Frau.
Ein einziger Satz durchbrach das Meer ihrer Tränen und bewegte sich zu den Ufern ihrer Seele: „Ich bin für dich da.“
Durch die offenen Tore ihrer selbst gelangte diese Botschaft zum Fundament ihres Lebenshauses. Dort fiel sie auf tiefen Grund und verband sich auf noch ungeahnte Weise in ihrer Seele mit der Substanz, aus dem Leben gewebt wird und Basis schafft, um zukünftigen Erschütterungen standzuhalten.
Enricos Blick fiel auf die Uhr, wusste er doch, dass er ausgerechnet heute Vormittag eine längere Reise ins Ausland antreten würde. Da würde es kaum Kontakt geben zwischen ihm und Yasmin, denn diese Reise führte ihn in ein unwegsames Land, wo die Grenzen der Technik auch die Grenzen der Kommunikation zwischen ihm und Yasmin sein würden. Noch einmal führte er sie behutsam auf den Weg der duftenden Gärten, wohl wissend, dass er ihren tiefsten Wunsch nie erfüllen würde.
Im Gehen wiederkommen
Enrico wandte sich im Gehen noch einmal um und nahm Yasmin in die Arme, als sei es das letzte Mal. Zärtlich küsste er ihre Wangen, ihren Mund. Irgendetwas in ihm sagte: Ihr werdet eine Weile nichts von einander hören und sehen. Diese Gedanken verscheuchte er. Als er jedoch in Yasmins Gesicht sah bemerkte er, dass auch sie einen Ausdruck trug, den er nicht an ihr kannte.
Eine Krähe flog vorbei und zerriss mit ihrem Schrei die Stille, die sich zwischen ihnen wie ein blaues Samttuch ausgebreitet hatte. Am liebsten würde er die Zeit dehnen und noch einmal an den Anfang ihres Tanzes zurückkehren, um sie in seinen Armen in der Qualität der Unvergänglichkeit zu halten. Da fiel sein Blick zur Uhr und im Gehen lag seine Antwort.
4. Wenn der Tag zur Neige geht, steht der Himmel in Flammen
Yasmin warf ihren Kopf zornig in den Nacken, ihr Pferdeschwanz vollzog auffallend heftige Bewegungen, während sie das Fenster ruckartig schloss. Niemand sollte ihr Schluchzen hören: Das fehlt noch, dachte sie bei sich.
Ein Gespräch mit ihrer besten Freundin könnte Entlastung bringen. Nein — was sollte sie ihr sagen? Dass sie sich brennend ein Kind wünschte, nur um zu hören: Das hätte ich Dir gleich sagen können, dass Enrico seine Familienplanung längst abgeschlossen hat. Auf diese Weise stieg die Flut ihrer heißen Tränen noch schneller an, die hinter ihren Augen brannten und eine Mischung aus Trauer und Wut waren.
Das Telefon klingelte.
Yasmin warf sich auf ihr Bett und schrie ihre Not in die Kissen. Ein Schwall brodelnden Zornes durchfuhr sie und sie begann mit ihren Fäusten die Kopfkissen zu verprügeln. Ihr Herz raste und der Puls erreichte die Werte einer gut trainierten Sportlerin.
Es mochte eine Stunde vergangen sein, als sie wieder aufstand, um sich im Bad mit kaltem Wasser ihr etwas angeschwollenes Gesicht zu kühlen.
Was will ich nur? Ihre Gefühle fuhren Achterbahn. Ich bin noch nie gern zur Kirmes gegangen.
Ihr Handy meldete eine SMS: Liebe Yasmin, pass gut auf Dich auf, Enrico.
„Super, das ist wirklich genau das, was ich jetzt brauche.“
Irgendwo hatte Yasmin einmal gelesen, dass Frauen, die einen wesentlich älteren Mann lieben, eine nicht geklärte Vaterbeziehung haben. „So ein Quatsch, wenn etwas stimmig war und richtig gut, dann die Beziehung zu meinem Vater. Nein, so komme ich auch nicht weiter.“
Die Dämmerung zog herauf und eine glutrote Sonne hüllte den Himmel in Flammen: Dem geht es wie mir, da draußen ist mein Innen.
Der Geist in der Flasche
Yasmins Wunsch hatte solch eine Kraft, dass sie nicht ahnte, dass es ihr bald so ergehen würde, wie im Märchen Aladin und die Wunderlampe, wo der Geist aus der Flasche Aladin fragt: „Was willst du, das ich für dich tue?“ Schon kurze Zeit später wurden ja alle seine Wünsche erfüllt.
Jetzt aber spürte Yasmin einen großen Widerspruch in sich: Ihre Liebe zu Enrico war ungebrochen, sie sehnte sich nach Trost und Verständnis und Erfüllung ihrer tiefsten Sehnsucht, und das bei dem Mann, der gerade gar nicht erreichbar war. Sie vermisste seine Zärtlichkeiten, die plötzlich in Wildheit wechselten und sie mitrissen in einen Sturm, der über ihr Land fegt, nur um Sekunden später die sich ausbreitende Stille in einen leisen Wind wechselnd zu empfinden, der die Süße des Sommers mit seinen duftenden Gärten in jeder ihrer Zellen hinterließ. — Hatte sie sich selbst mit ihrem Wunsch nach einem älteren, reifen Gefährten möglicherweise überfordert und nicht bedacht, welche Konsequenzen aus dieser Begegnung erwachsen würden? Herz und Verstand gehen nicht immer Hand in Hand, war ihr Fazit. Es schien ihr, als sei sie in einem Land, wo sie die Kultur im Umgang miteinander noch nicht ganz verinnerlicht hatte, sich einerseits zu Hause fühlte, kurze Zeit später jedoch ganz fremd.
So huschte sie unter die Dusche, in der Hoffnung, dass das warme Wasser das ihren Körper herunterlief auch ihre Widersprüche wegspülte.
Die Sichel des Mondes
Die Nacht legte sich langsam um Yasmins Schultern, wie ein Samtcape und ihre Augen brannten nach dem endlosen Weinen. Wo waren die Arme ihres Liebsten, wo seine volle Stimme, sein tiefes Lachen? Yasmin war allein und fiel tief und immer tiefer in sich selbst hinein, scheinbar endlos, als würde dieses Fallen nie enden.
Das Weinen hatte sie müde gemacht, ein heißer Kakao schien ihr Trost zu versprechen, so fröstelte sie, und das mitten in einer schon warmen Frühsommernacht.
Da fiel ihr Blick auf die Sichel des Mondes, fein geschwungen, wie die Sicheln, mit denen zu früherer Zeit das Gras für die Tiere eingeholt wurde. Sie hatte keine Post von Enrico, fast erschien es ihr, als jage sie einem Phantom nach. Ihr Kopf war schwer und nicht mehr fähig, auch nur ansatzweise einen klaren Gedanken zu fassen. Der Sternenhimmel allerdings war in der Lage, sie auf seine Weise mit einem schönen Gefühl zu verbinden. Als sie noch vor wenigen Tagen neben Enrico gelegen hatte und in einer dieser Nächte seinen Atem hütete, war über ihnen der Sternenhimmel, unendlich weit und Heimat spendend.
Du bist zeitlebens dafür verantwortlich, was du dir vertraut gemacht hast. — Dieser Satz vom kleinen Prinzen kam ihr in den Sinn, warum auch immer, gerade jetzt.
Der Schlaf war stärker, als die Kraft der Gedanken, die das Herz an ihre Ufer gespült hatte.
Den Samen der Freiheit ins Herz gelegt
Die Morgenröte tauchte das Land durch ihr Lichtspiel vor Yasmins Haus in eine Landschaft, wie sie eher in Afrika beheimatet ist. Diese afrikanische Stimmung brachte Yasmin sofort eine Erinnerung in ihr Bewusstsein, als sie bei den Tuaregs eine Wüstenwanderung auf den Kamelen gemacht hatte. Die stolzen Frauen und Männer hatten in ihr ein Staunen entfacht, da wehte etwas zu ihr, was sie genauso leben wollte. Die Frauen führten in einem großen Selbstverständnis ihren Stamm Seite an Seite mit ihren Männern.
Yasmin hatte sich damals bewusst für einen der letzten matriarchalischen Stämme entschieden, wo ein ebenbürtiges Zusammenleben von Mann und Frau selbstverständlich und mit großer Würde und Stolz gelebt wird.
Mitten in der Wüste war der Samen der Freiheit in ihr Herz gefallen, und seitdem hatte sie nach dem Mann gesucht, an dessen Seite sie als freie Frau leben wollte. Enrico war genau