Mit leeren Augen starrte sie auf ihre Mutter, die spielend zwei Plätze an der Tafel einnahm. Von wem?, lag Johanna schon auf der Zunge, doch sie brachte keinen Ton heraus.
Süffisantes Lächeln zeigte sich in dem flächigen Gesicht. „Sie wird nie einen Partner finden, der es mit ihr aushält. Dazu ist sie viel zu selbstsüchtig. – Hab’ ich nicht recht, meine Kleine?“
Dein Partner hat es auch nicht sehr lange mit dir ausgehalten, fiel Johanna spontan ein, doch sie wollte nicht mit gleicher Waffe gegen ihre Mutter kämpfen. Das Blut pochte in ihrem Kopf, dass sie fürchtete, es könnte ihr jeden Moment aus Nase und Ohren laufen. Ihr Körper zitterte, als wäre sie gerade in arktisches Eiswasser geworfen worden. Ihre Augen, die bereits knietief unter Wasser standen, drohten jeden Augenblick überzulaufen. Ohne an eine gesellschaftlich korrekte Verabschiedung zu denken, die von einer missratenen Tochter wie ihr wohl ohnehin niemand erwartete, rannte sie aus dem Lokal.
„Das Schwarz steht ihr gut“, hörte sie eine Frauenstimme sagen, während sie die kalten Fliesen durch die dünne Sohle ihrer Schuhe spürte.
„Damit sieht sie zumindest flotter aus, als mit den Sachen, mit denen sie sonst unter die Leute geht.“ Das konnte nur die Stimme ihrer Mutter sein. So ein Arschloch!
Sie sprang in ihren Wagen und raste zurück nach Wien.
War es ihre Schuld, dass die Männer, die sie bisher kennengelernt hatte, auf üppigere Frauen standen. Frauen, deren Brust zumindest Wäsche der Größe 75B zu füllen vermochte, Frauen, die zumindest die unterste Grenze für Zwergpygmäen von einem Meter siebzig übertrafen? Joe!, lass den Quatsch! Du weißt genau, dass das nur Ausreden sind. Die Welt ist voll von pygmäenhaften Frauen mit Knabenbrüsten. Und über achtzig Prozent von ihnen haben, in der einen oder anderen Form, eine Beziehung. Also woran wird es wohl liegen, wenn es nicht an der Körpergröße und den winzigen Titten liegt? An den unintelligenten Männern, die viel lieber Frauen ficken, deren IQ nur geringfügig über der Raumtemperatur eines unbeheizten Iglus liegt? Oder daran, dass du in vielen Situationen darauf beharrst recht zu behalten? Dass du immer dagegenreden musst, nie mit deiner Meinung zurückstehen kannst, immer das letzte Wort haben musst.
Joe, deine Mutter hatte nicht ganz unrecht.
Die blöde Kuh hätte es nicht vor allen ausbreiten müssen!
Solltest sie mittlerweile schon kennen.
Und wer hat jetzt das letzte Wort?
Außerdem, aber das wollte sie den Verwandten nicht unbedingt auf die Nase binden, hatte sie erst vor drei Wochen einen sehr netten Robert im Fitnessstudio kennen gelernt.
Wie ein in Endlosschleife laufendes youtube-Video spulte ihre Erinnerung ständig dasselbe Verhör ab. Dabei lag die Beerdigung ihrer Großmutter mittlerweile schon sechs Wochen zurück.
Müde und ausgelaugt schälte sie sich aus der Konservendose auf Rädern, nachdem sie diese auf dem viel zu großen Stellplatz in der Tiefgarage geparkt hatte. Es bedurfte einer nicht geringen Menge an weiblicher Überzeugungsarbeit, der ihr innewohnenden Bequemlichkeitstussi klarzumachen, die Finger vom Rufknopf des Aufzugs zu lassen, und die Treppe in den vierten Stock zu nehmen. Im Erdgeschoß legte sie eine Pause ein, um den Inhalt ihres Postkastens zu durchsuchen. Tatsächlich fand sich an diesem Tag ein persönlich adressiertes Kuvert. Absender Dr. Hans Lutz, öffentlicher Notar. Etwas außer Atem schloss sie ihre Wohnungstür auf, ließ Rucksack und Handtasche fallen und ging in die Küche. Während der Herd damit beschäftigt war, das Teewasser zum Kochen zu bringen, öffnete sie den Brief. Es ging, wie nicht anders zu erwarten, um die Hinterlassenschaft ihrer Großmutter.
Sowohl die Tatsache ihres Ablebens als auch das widerliche Geplänkel seitens ihrer Verwandten, das nach der Beisetzung wie ein unangekündigter Tornado über sie hinweggefegt war, hatte sie seither versucht zu verdrängen. Doch wie ihr schien, nicht sehr erfolgreich.
Das Pfeifen des Teekessels schnitt unmotiviert in ihre Gedanken. Sie goss das siedende Wasser über den Teebeutel und hoffte, dass der „Gute-Laune-Tee“ auch wusste, was er ihr schuldig war.
Die Langeweile, die sie üblicherweise beim Lesen formeller Schreiben empfand, musste jedoch sofort einem Gefühl der Überraschung weichen, als sich ihre dunklen Augen an den Worten „hat Sie als Universalerbin eingesetzt“ festklammerten und diese nicht mehr loslassen wollten. Sie ließ den Tee stehen und schenkte sich stattdessen ein Glas Rotwein ein. Damit schlurfte sie zu ihrer Couch im Wohnzimmer und nahm einen kräftigen Schluck. Erneut las sie den Brief. Sein Inhalt blieb jedoch, sehr zu ihrer Freude, derselbe.
Ihr Schlaf war unruhig und nicht wirklich erholsam gewesen. Erschreckt fuhr sie hoch, als der Wecker rappelte. Noch bevor sie in die Ordination fuhr, rief sie den Notar an. Dieser war freundlich, doch wenig gesprächig. Ja, selbstverständlich, meinte er, beinhalte das Erbe auch die alte Mühle, in der ihre Großmutter bis zu ihrem Ableben gewohnt hatte. Es gäbe da auch noch ... Aber das interessierte Joe nicht mehr. Die Mühle, die Mühle. Sie würde tatsächlich die Mühle bekommen, in die sie sich 1986 als Sechsjährige verliebt hatte und in der sie als Mädchen die Sommerferien fern der Großstadt verbracht hatte. Es war mit Abstand die längste Liebesbeziehung und über weite Spannen ihres Lebens auch ihre einzige gewesen. Leider hatte sie auch diese Beziehung in den letzten zehn Jahren vernachlässigt. Nein, es handle sich nicht um einen Irrtum, und nein, das Testament könne nicht von irgendwelchen Nichten, Neffen, Tanten, Onkeln oder sonstigen Verwandtschaften beeinsprucht werden, insistierte der Notar. Nein, auch nicht von ihrer Mutter. Es sei so rechtskräftig wie in einem Staat wie Österreich nur möglich. In konkretem Fall gäbe es auch noch keine EU-Verordnung, die die lokalen Gesetze außer Kraft setze.
Joe wusste um dieses sich schon seit Menschengedenken hartnäckig haltende Gerücht, dass Geduld eine Tugend war. Doch, wie die Dinge lagen, war es ihr im konkreten Fall nicht möglich, darauf Rücksicht zu nehmen. Vielleicht ein andermal. Noch am selben Tag suchte sie Dr. Lutz in seiner Kanzlei auf, um den Schlüssel für die Mühle – ihre Mühle – abzuholen. Ihr Herz schlug rascher, ihre Wangen waren von einem Hauch von Rot getönt, als sie dem Notar ihre Handflächen entgegenstreckte. Es war ein großer, klobiger Schlüssel, den er ihr gab. Einen ähnlichen hatte sie einmal auf der Rosenburg gesehen und er hatte nicht nur das Tor zum inneren Burghof, sondern auch jenes in eine andere Zeit geöffnet. Schlüssel wie dieser werden wohl schon seit gut hundert Jahren nicht mehr hergestellt, dachte Joe, als das Metall ein angenehmes Prickeln auf ihrer Haut hinterließ. Daneben war noch ein moderner 3KS Schlüssel, sowie ein winziger für den Briefkasten.
Dichter Nebel schnitt die Hochhäuser, die sich, hässlichen Wachtürmen gleich, entlang der Donau postiert hatten, an der siebten Etage ab, als sie am darauffolgenden Samstag aus der Stadt Richtung Weinviertel fuhr. In Stockerau verließ sie die Autobahn und folgte der gut ausgebauten Bundesstraße nach Hollabrunn. Von dort nahm sie die Abzweigung Richtung Eggenburg, um zu dem winzigen Fleckchen an der Schmida zu gelangen, das ab nun ihr gehören sollte. Reste des letzten Schnees, der vor einer Woche gefallen war, bedeckten die Wiesen wie ein mottenzerfressenes Leintuch. Verträumt und idyllisch, märchenhaft und unwirklich waren die Adjektive, die Joe in den Sinn kamen, als das alte Gemäuer plötzlich vor ihr auftauchte. Eine zaghafte Frühlingssonne breitete skelettartig die Schatten der Kastanienbäume über die Mühle. Wie lange war es her, dass sie das letzte Mal hier gewesen war? War es vor drei Jahren zu Weihnachten gewesen, als sie ihre Großmutter besuchte, um ihr etwas Bäckerei zu bringen? Oder waren es gar schon vier? Seitdem hatte sie nur noch telefonischen Kontakt mit ihr gehabt, hatte sie an ihrem Geburtstag und an den Feiertagen angerufen. Mehr nicht.
Mit einem Mal fühlte sich Joe schuldig, fühlte, wie das schlechte Gewissen tief aus ihrem Inneren emporkroch. Sie fragte sich, womit sie es verdient hatte, dies kleine Paradies am Ende von Nirgendwo zu erben, wo sie doch nicht wirklich etwas dafür getan hatte. Dieses mittlerweile mehrfach umgebaute und renovierte Gebäude, dessen Fundamente aus dem 11. Jahrhundert stammten und in dem noch bis 1950 Getreide gemahlen wurde. Erst sperrte sie das Sicherheitsschloss auf. Dann steckte sie mit einer Ehrfurcht, die beim Schlüsselmeister im Tower of London kaum größer sein konnte, den mittelalterlich anmutenden Schlüssel in das massive Schloss. Noch ein metallenes Knacken und die Tür sprang auf.