Der Pförtner braucht heut' wieder.
Einen Wachhund hat er hier noch nie gesehen, dafür einen kleinen steinernen Löwen auf einem Sockel, gleich neben der Einfahrt, der, aufgerichtet, mit seiner rechten Tatze lässig auf dem Staatswappen lehnend und - wie es scheint - ein sehr zufriedenes Dasein führend, sich nicht über zu viel Arbeit beschweren kann, genau wie der Pförtner.
Als ob er es gehört hätte, geht es auf, das Tor, und er kann passieren - vorbei an den vier Fahnenmasten, die in einem Karree links der Auffahrt aufgestellt sind. Weil es keine Zufälle gibt, erscheint dem Besucher die bayrische Flagge zuerst, links daneben die Deutsche, und hinter der Bayrischen entlang der Auffahrt die Europäische, und wieder links daneben die Belgische. Vor dem Gebäude parken einige BMWs und Audis - entweder Dienstwagen oder Patriotismus. Maier geht die Stufen hinauf durchs Portal, wo ihn der Portier mit einem herzlichen 'Grüß Gott, hamm's a scheene Anreis ghabt, Herr Maier?' empfängt.
- Freili, merci. Bin des letzte Stück'l z'Fuaß ganga. Und bei Eana? Pass'd ois?
- Ja, dankschee da Nachfrog, lacht er zufrieden, und weiter-
- Hamm's Glück ghabt, I glab, es wead boid wos gebn.
Er zeigt auf den Himmel, der immer grauenhafter wird, und immer dichter an dunklen Stellen. Schnell größer werden die rußfarbenen Flecken, die über sie hinweg ziehen wie eine fliegende Horde Milka-Kühe in einem Schwarz-Weiß Fernseher. Doch die erste Donnerwolke nähert sich ihnen nicht von oben.
- Da sind sie ja, Herr Maier. Es wird Zeit! Sie mit Ihrer Flugangst. Ich hoffe, Sie haben die sehr lange Zeit im Zug wenigstens genutzt und sich meine Unterlagen durchgesehen!
- Das ist ja eine freundliche Begrüßung, Herr Stahl.
So ist er, sein Chef - Leiter der bayrischen Botschaft. Immer sachlich, und, für Maier das Schlimmste: Mit ihm kann er keinen Spaß machen, es ist immer irgendwie gezwungen. Sein preußisches Blut, seine harte Erziehung und nicht zuletzt seine Unfähigkeit, sich zu ändern, oder zu denken, es nicht zu dürfen, zeichnen dafür verantwortlich. Er ein Opfer der damaligen Zeit? Nein, so sieht er sich nicht - es war halt einfach so: Sehr früh hat er Verantwortung übernehmen müssen und wollte seinem Vater nach dessen Kriegserlebnissen ein pflegeleichter Sohn sein, ihn stützend und dabei auf seine eigene Kindheit verzichtend.
Diesem hat er eine weitere Eigenschaft zu verdanken - seinen unbedingten Willen zu überleben. Kurz vor Kriegsende hatte der Vater der Ostfront Lebewohl gesagt und war zunächst vor der eigenen, dann vor roten Armee geflohen, quer durch Deutschland nach Bayern, um sich lieber den Amerikanern zu ergeben. Ein sehr heikles Unterfangen war das, die Flucht lebensgefährlich, denn es gab überall Standgerichte und Erschießungskommandos für Deserteure, und er musste ja desertieren - er konnte ja nicht als Soldat so einfach durchs Land reisen, alle vier Stunden irgendwo klingeln und sagen 'Wie geht's? Habt's an Kaffee? Und a bisserl Wurst?'.
Marschbefehle waren so gut wie unfälschbar und zu leicht überprüfbar, er musste sich also als Zivilist durchschlagen, unrasiert und ungepflegt, als alternder Landstreicher, was dem Ausgemergelten in den Lumpen, die er trug, sogar tagsüber abgenommen wurde. Trotzdem machte er das Meiste nachts und viel zu Fuß, nie im Zug, und leicht humpelnd. Eine Peter Verwandler Alexander - reife Leistung muss das gewesen sein, und ihm die Gefangennahme durch die Amerikaner in Pegnitz/Oberpfalz wie eine Erlösung.
Schon bald nach dem Krieg wurde er wieder freigelassen, ging nach München und verliebte sich in eine waschechte Einheimische, die es damals noch zahlreich gab. Sie heirateten einander und stemmten gemeinsam ihren Neuanfang, nachdem sie beide alles verloren hatten. Er durch die Flucht, und ihre Familie durch den vorletzten Bombenangriff - beide Mietshäuser und die Metzgerei in Neuhausen waren explodiert.
Zwei Jahre später kam dann Maiers Chef auf die Welt, und als Erstgeborener fühlte er noch mehr Verantwortung, als ihm lieb war - für seine beiden Geschwister. Nach der Schule durften alle drei studieren, damals alles andere als selbstverständlich, und nur möglich durch die ungeheure Kraft und den starken Willen der Eltern, die die drei bereits in der Schule forderten und immer unterstützten. Als dann '68 kam, war Stahl nicht in Schwabing beim Demonstrieren im Café oder zugekifft in der Kommune, sondern bastelte an seiner Karriere und trat in die regierende Partei Bayerns ein.
Maiers Kollege Brunner hatte ihm das von Stahls Herkunft gesteckt, mit der Bemerkung, ihn habe es gewundert, dass er, der Alte, selber davon angefangen hätte, von seinem Vater zu erzählen. Daran hält sich Maier seitdem fest - als Lichtblick, dass sich die verkrampften ersten vier Wochen nicht bis zu dessen Pensionierung durchziehen und er vielleicht noch heuer ganz normal mit ihm reden können wird.
Was er außerdem von Brunner weiß, ist, dass Stahl vor seinem jetzigen Posten der Vorsitzende des Ausschusses der Regionen in Wirtschaft und Verkehr hier in Brüssel war - ein sehr mächtiger Ausschuss, in dem es um sehr sehr viel Geld geht, keine 500 Meter entfernt vom bayrischen Schloss. Wie er zu diesem Posten kam, das will Maier noch herausfinden - auch, um ihn besser zu verstehen.
Was bei Stahl nicht verstanden werden muss, sondern Gesetz, ist seine Autorität, ja, sein autoritärer Führungsstil, surprise, surprise. Sein Auftreten wirkt durch das Weglassen von Gestiken und seinen strammen Gang stets kühl und berechnend, und reiht sich nahtlos seinem Sprachstil an, der seit Jahrzehnten, ja seit er sprechen kann, erfolgreich seine Geringschätzung für Adjektive und Ausschmückungen zum Ausdruck oder gerade nicht dazu bringt.
In die Ecke 'Oberlehrer' kann man ihn aber nicht drängen, zu sympathisch und onkelhaft kommt seine Stimme daher, sehr klar und tief, ähnlich der vom 'Siebten Sinn' - man glaubt ihm einfach, fährt langsamer, und gemeiner noch für seine Diskussionsgegner: Das, was er von sich gibt, ist so gut wie immer sehr überlegt, hat Hand und Fuß. Er verkörpert also die Rolle des Vaters, des Felsens, eines Souveräns, so souverän, dass er bei den meisten seiner Mitmenschen einen starken ersten Eindruck hinterlässt, was gerade in Verhandlungen, von denen schwere auf die Bayern zukommen werden, außerordentlich hilfreich sein wird.
Ja, sein Chef, Jakob J. Stahl, 62, scheint nach dieser Beschreibung ein Jemand zu sein, bei dem man sehr früh aufstehen muss. Und es kommt noch dicker: Er ist nicht nur diszipliniert im Vermeiden von Adjektiven und spielt Tag und Nacht moralische Instanz, nein. Er kann auch Bazi und Schlitzohr - vererbt von seiner Mutter, die sich nie was g'schissn und einfach g'macht hat, die eine unglaublich starke Frau war.
Stahl also ein Amigo? Nein! So weit wollen wir nicht gehen, das ist er nicht, aber wenn es der Sache dient, sprich dem Land, dann ist ein Kuhhandel schon mal drin, und sogar oft unvermeidbar, wo es doch alle so machen.
Maier hält sehr viel von seinen Chef, und er weiß, er muss eine Menge auf dem Kasten haben, sonst wäre er jetzt nicht da, wo er ist. Die Bayern loben keinen nach Brüssel weg wie manchen Segelbootliebhaber, hier muss repräsentiert werden. Kein leichter Job, aber wahnsinnig interessant, und Maier ist ab jetzt dabei. Dankbar ist er, dass sich dieses Tor für ihn geöffnet, und heilfroh, dass die Tür des ICE dieses Tor nicht jäh wieder verschlossen hat.
Er will hier sein Bestes geben.
3
- Wir können gleich loslegen - in Ihrem Büro?
- Ja, kommen Sie. Ich will Sie gründlich einweisen, bevor es losgeht.
Er biegt vor ihm rechts ab, in den langen Korridor, ausgeschmückt mit Bildern von Bayerns ehemaligen Ministerpräsidenten, alle CSU, bis auf einen, Wilhelm Hoegner, SPD. Der Ausreißer wurde im Herbst 1945 von den Amerikanern ernannt und war dann nochmal im Amt für 3 Jahre von '54 bis '57 mit einer Koalition aus 4 Parteien ohne CSU.
Vorbei also an Fritz Schäffer (die ersten 4 Nachkriegsmonate), Wilhelm Hoegner, Hans Ehard (insgesamt 10 Jahre), Hanns Seidel (mehr als 2