Wolfgang ist ein schüchterner Junge, intelligent aber unsicher. Das ist ein Handicap wenn man sechzehn Jahre alt ist und eigentlich die Welt, das heißt die Mädchen, erobern will. Die Gemeinschaft der Mädchen lebt auf einer abgesonderten, geheimnisvollen Insel innerhalb der alltäglichen Umgebung, wenn man keine Schwester hat und auf eine Jungenschule geht. Die Herrlichkeit dieser Insel ist nur zu ahnen, es muss nahe am Paradies sein, aber wie sie genau aussieht und wie man zu ihr übersetzt, ist ein noch zu lösendes Rätsel.
Er sieht sie manchmal auf dem Weg zur Schule.
What a beautiful feeling
Am Hauptbahnhof, wo er aus der Straßenbahn steigt, taucht sie mit ihren hellblonden Haaren auf.
Crimson and clover over and over
Um sie herum sind immer mehrere Mädchen. Sie lacht viel.
Ah, now I don’t hardly know her
Dabei wirkt sie gar nicht eitel. Einmal sind sie ganz nah an ihm vorbei gegangen und sie hat zu ihm gesehen.
Ah when she comes walking over
Natürlich hat sie ihn gar nicht bemerkt, aber er fühlte sich wie berührt.
but I think I could love her
Sie ist wohl auf der katholischen Schule. Da müssen sie im Winter über den Hosen Röcke tragen.
crimson and clover over and over
Ab und zu denkt er an sie.
Die höhere Schule als Bildungsanstalt für die Kinder beseelt die untere Mittelschicht. Wolfgang besucht das Gymnasium, für das Bestehen der Aufnahmeprüfung hatte er zwei – zwei! – der heißgeliebten Wiking-Automodelle bekommen. Sein Vater arbeitet im mittleren Dienst bei der Bundespost, aber eigentlich ist er immer noch Bataillonskommandeur. Die meisten Klassenkameraden kommen aus Familien von Beamten und Angestellten vergleichbarer Einkommensgruppen, zwei stammen aus Unternehmerhaushalten, einer ist Arztsohn und ein Vater ist Ministerialrat. Aber unter den Schülern ist das kein Thema.
Elternsprechstunde im Gymnasium. Elisabeth Peters schaut im Foyer auf die Tafel mit den Namen und Raumnummern. Sie muss in den 1. Stock. Sie klopft. Ein freundliches „Herein.“ Reinhard Evers gibt Englisch und Französisch und ist der Klassenlehrer. Frau Peters stellt sich vor und setzt sich ihm gegenüber an den niedrigen Tisch, der aus der mittleren Reihe der Klasse herausgerückt ist.
Lehrer: Frau Peters, Wolfgang ist ein guter Schüler. Und bei mir ist er besonders gut. Seine Leistungen sind also sicher nicht der Grund, dass Sie hier sind.
Mutter: Nein, nein, wir sind auch stolz auf ihn. Aber ich mache mir Sorgen, weil er so wenig mit Schulkameraden zusammen ist. Gerade zum Geburtstag, und sonst fast nie.
Lehrer: Gute Schüler sind selten die Beliebtesten in der Klasse. Und manchmal ist er vielleicht nicht besonders geschickt im Umgang mit seinen Klassenkameraden.
Mutter: Wie meinen Sie das?
Lehrer: Gelegentlich demonstriert er seine Überlegenheit ziemlich deutlich. Sowas ist nicht gern gesehen.
Mutter: Ja, ich weiß. Er hat eine Neigung zur … Aber es kommt auch daher, dass er seine Eigenbrötelei als Auszeichnung sieht. Er liest und liest und liest …
Lehrer: Das merkt man ihm an. Aber Sie müssen sich keine Gedanken machen. In der Klasse kommt er zurecht.
Mutter: Ich danke Ihnen, Herr Evers. Das beruhigt mich doch.
Verlassen wir die beschränkt-individuelle Ebene und wenden uns dem großen Ganzen zu. Die Beatmusik ist eine historische Kraft. Sie wirkt auf die Gesellschaft insgesamt, in ihrer konkreten Verfassung. Dazu gehört auch die ganz besondere geopolitische Situation, in der sich die Bundesrepublik befindet. Und die hat dazu beigetragen, dass Sender für die hier stationierten ausländischen Soldaten ganz wesentlich die neue Musik verbreiten konnten. Andererseits (im ganz wörtlichen Sinn): Wenn wir herauszoomen aus der Straße, dem Viertel, der Stadt, der Region, so dass wir nur noch ein vielfarbiges Patchworkmuster aus Äckern, Wäldern, ausgreifenden Agglomerationen, Flüssen und Autobahnen erkennen, stoßen wir irgendwann im Osten auf eine nicht normale Grenze.
Am Vormittag strahlt das Fernsehen der BRD,
Problems, problems, problems
natürlich nur über die Sender an der Grenze
zum souveränen Arbeiter- und Bauernstaat,
all day long
Hetzprogramme
worries, worries pile up on my head
zur Untergrabung der sozialistischen Gesellschaftsordnung aus:
will my problems work out
Nachrichten, Sportschau, Haifischbar und das Aktuelle Magazin
right or wrong
In der Wochenschau mündet die Berichterstattung über bedeutende gesellschaftliche Ereignisse oft in Bildern eines Tanzparketts voll mit schwarz-weißen Pärchen in Zeitlupenbewegungen. Richtiges Benehmen im Umgang mit dem anderen Geschlecht und Vertrautheit mit den Tanzschritten der wichtigsten Standard- und Lateintänze gehören zur Grundausstattung einer gehobenen Position. Bei solchen Anlässen, deren Besuch beruflich geboten ist, sind langsamer Walzer und Unterhaltung auch mit der Frau des Chefs unfallfrei zu bewältigen. Deshalb ist die Tanzstunde eine gesellschaftliche Verpflichtung für Gymnasiasten, der anders als sonst in derartigen Fällen erwartungsvoll entgegen gesehen wird.
Der unverzichtbare dunkle Anzug und die Krawatte beglaubigen den Eintritt in die Welt der Erwachsenen, und wer 16 ist, darf endlich Zigaretten rauchen und Bier trinken. Die Tanzschule verlangt Förmlichkeit, aber sie bietet auch Möglichkeiten der persönlichen Entfaltung. Tanztees am Wochenende geben reichlich Gelegenheit, neben langsamem Walzer auch Twist, Slop, Watussi, Mashed Potato und Hully Gully zu tanzen. Der Tanzunterricht ist eine Fähre zu der Insel der unbekannten Wonnen, das heißt, so ganz unbekannt sind sie nicht, allerdings haftet ihrer den Jungen bekannten Version der Ruch des gesundheitsschädlichen Lasters an.
Er muss unbedingt in die Tanzstunde.
Pretty Woman
Alle gehen in die Tanzstunde. Da kann er doch nicht ausgeschlossen sein!
the kind I like to meet
Der Kursus ist teuer, das weiß er. Aber nur so kann er mitreden,
what do I see
wenn sie über Mädchen sprechen.
Noone could look as good as you
Das ist eigentlich der Sinn der Tanzschule, dass man Mädchen anfassen
und ganz nah an sich heranziehen
pretty woman
und berühren darf
give your smile to me
und es ist nur wegen der Tanzfiguren.
In bildungsorientierten Familien der unteren Mittelschicht ist der Fernseher durchaus nicht unumstritten. Die Familie Peters zum Beispiel besitzt keinen Fernseher. Leisten könnte man ihn sich schon, die Ratenzahlungen würde man verkraften. Aber Herr und Frau Peters sind dagegen, dass so eine Flimmerkiste in