Mit den „Kriegsaufsätzen“ wies Chamberlain indes seine stramm deutschnationale Haltung eindrucksvoll nach. Die Aufsätze erschienen seit September 1914 und fanden weite Verbreitung. „Lauter 42-Zentimeter-Bomben“, so kündigte er seine Pamphlete martialisch an. Die Traktate sind im Ton allerdings eher zurückhaltend. Chamberlain formuliert keine Kriegsziele, sondern singt neben weitschweifigen kulturgeschichtlichen Abhandlungen das Loblied des vermeintlich friedlichen Deutschland, das von einer Welt von Feinden umgeben sei.
Die Kriegsschriften seien „sehr stark gegen England gerichtet“, so Bermbachs Befund. Chamberlain sieht Großbritannien als „treibende Macht“ auf dem Weg in den Weltkrieg an und beschimpft seine ursprüngliche Heimat als „Nation von Schafen“ und „Apotheose des Kleinhirns“. Bittere Klage führt er über die antideutsche Kriegspropaganda, hingegen lobte Chamberlain den fachmännischen Umgang der Soldaten mit Kunstwerken in den besetzten Gebieten. Angesichts der Begeisterung der Landser für die französische Gotik vergaß er indes das „Strafgericht von Löwen“ zu erwähnen, bei dem betrunkene Soldaten am 25. August 1914 nicht nur 200 Bewohner der belgischen Stadt umbrachten, sondern auch die berühmte Universitätsbibliothek in Brand steckten.
Im Verlauf des Weltkriegs habe Chamberlain nochmals eine „Form von Radikalisierung“ durchlaufen, so die Feststellung von Sven Fritz. So trat er gemeinsam mit einer Reihe von Wagner-Familienmitgliedern in den Alldeutschen Verband und in die Deutsche Vaterlandspartei ein. Im Haus Wahnfried erläuterte er den Frontverlauf an einer großen Karte. Zudem verknüpfte Chamberlain das Kriegsgeschehen zusehends mit dem Rassenkampf und dem Antisemitismus, der in den Kriegsschriften nur an wenigen Stellen vorkommt. Sein abgründiger Judenhass zeigte sich etwa, als er dem später als Reichsaußenminister von Rechtsradikalen ermordeten Walther Rathenau „Kriegswucher“ vorwarf.
Nach dem Krieg und dem Untergang der Hohenzollernmonarchie entstanden über Bayreuther Mittelsmänner rasch Kontakte zwischen Wahnfried und dem frühen Nationalsozialismus. Chamberlain rühmte Hitler, der ihn im Oktober 1923 besuchte, als „Mann der Vorsehung“ und sprach sich für einen antimarxistischen „Vernichtungskampf“ aus. Zwar gab es auch Differenzen zur NS-Bewegung – wie Wagner lehnte Chamberlain den Imperialismus als den Germanen wesensfremd ab. Doch die Nationalsozialisten vereinnahmten den Bayreuther Ideologen rasch für ihre Zwecke und warben etwa in Wahlkämpfen mit seinen markigen völkischen Sprüchen.
Udo Bermbach will Chamberlain allerdings nicht auf seinen Rassismus und Antisemitismus reduzieren, sondern seine gesamte Persönlichkeit in den Blick nehmen. Es gehe allerdings nicht darum, ihn zu rehabilitieren, „das muss und kann man nicht“. Als Wagners Schwiegersohn Hitler traf, saß er bereits im Rollstuhl, von einer schweren Krankheit gezeichnet. „Ich gäbe meinen linken Arm darum, als Deutscher geboren zu sein“, hatte Chamberlain lange zuvor gesagt. Ironie der Geschichte: Sein linker Arm wurde tatsächlich gelähmt. Nach langem Siechtum starb er am 9. Januar 1927 in Bayreuth. Bei der Trauerfeier sprach Adolf Hitler.
HOUSTON STEWART CHAMBERLAIN,
geboren 1855 in Portsmouth, England, ist der Verfasser der Schrift „Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts“ (1899), das zu einem Standardwerk des rassischen und ideologischen Antisemitismus in Deutschland avancierte. Chamberlain war ein führender Vertreter des Bayreuther Kreises, der für sich in Anspruch nahm, die ideologische Prägung der Bayreuther Festspiele im Sinne des Komponisten weiterzuentwickeln, und heiratete 1908 Wagners Tochter Eva. Er starb 1927 in Bayreuth.
Der Autor:
Dr. Bernd Buchner ist Historiker und Journalist. Er war Kulturredakteur des „Nordbayerischen Kuriers“ und arbeitet heute als Redakteur für den Evangelischen Pressedienst (epd) in Frankfurt am Main. Im vergangenen Jahr veröffentlichte er das Buch „Wagners Welttheater. Die Geschichte der Bayreuther Festspiele zwischen Kunst und Politik“ (Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 256 Seiten, 39,90 Euro).
Foto: Bayerische Ostmark
FESTSPIEL-GESPRÄCH
„Als in Bayreuth ein Theaterwunder passierte“
Marieluise Müller beobachtete die Festspiele 28 Jahre lang als Redakteurin der „Festspielnachrichten“, Monika Beer als Opernkritikerin. Jetzt sprechen sie erstmals nicht mit Interviewpartnern, sondern miteinander über die Bayreuther Festspiele. Ein Rückblick auf zwei (Berufs-)Leben für den Grünen Hügel
Von Monika Beer und Marieluise Müller
In den Räumen eines alten Hauses am Bayreuther Marktplatz kreuzten sich ihre Wege: Dort verstärkte in den Semesterferien die Redakteurin Marieluise Müller die Crew des „Nordbayerischen Kuriers“, dort begann Monika Beer als Volontärin ihre journalistische Ausbildung. In diesen Jahren wurde der Jahrhundert-„Ring“ für beide das entscheidende Opernerlebnis. Monika Beer wechselte ins Pressebüro der Bayreuther Festspiele, übersetzte Chéreaus „Ring“-Buch aus dem Französischen ins Deutsche. Marieluise Müller schrieb ein Buch über den Startenor Peter Hofmann.
Darüber und über das, was ihnen das Musiktheater bedeutet und was sie von ihm erwarten, sprachen die beiden jetzt zum ersten Mal nicht mit Interviewpartnern, sondern miteinander. Monika Beer aus der Sicht Opernkritik, auf die sie sich im Laufe ihrer Zeitungslaufbahn spezialisierte, Marieluise Müller mit der Erfahrung ihres „Herzensberufs“ Regie, den sie nach dem Studium der Theaterwissenschaft in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellte. Da beide jahrzehntelang auch für die „Festspielnachrichten“ schrieben, die von 1951 bis 2013 die Festspiele begleiteten (28 Jahre lang mit Marieluise Müller als Chefredakteurin), war es für die Autorinnen an der Zeit, einen gemeinsamen Blick „zurück in die Zukunft“ zu werfen.
Marieluise Müller: Wenn wir über Oper sprechen, frage ich mich zuerst: Wie findet man den Weg zu ihr?
Monika Beer: Mich hat als Kind zuerst Maria Callas elektrisiert, im Radio, und wie ich erst spät herausfand mit einer Meyerbeer-Arie! Die Callas hat mir – ohne dass ich wusste, wer sie war – emotional einen unglaublichen Kick gegeben, mit einer Koloraturarie, die für mich mehr war als „nur“ Kunst. Als ich dann Klavier lernte, war ich versessen darauf, mich durch Musik auszudrücken. Das ging so weit, dass ich nach einem Umzug aus Heimweh nur noch traurige Musik spielte.
Müller: Das heißt, die Musik verstärkte deine Emotionen, war aber nicht der Trost, der sie hätte auffangen können…?
Beer: Ich wollte zurück an einen bestimmten Ort – und nicht getröstet werden. Im Nachhinein fand ich es eine gesunde Reaktion, dass ich nicht am Klavier kleben geblieben bin. Ich war damals sowieso mehr bei den Beatles und Stones, sang in einer Beatband. Mit sechzehn kam ich nach Bayreuth, meine erste Oper erlebte ich im Festspielhaus – eine „Lohengrin“-Generalprobe. Die Musik fand ich toll, aber der Augenmensch in mir wurde nicht angesprochen. Stämmige Männer in Röckchen: das war nix für uns Teenager…
Müller: Auch ich hörte als Gymnasiastin meine erste Wagneroper im Festspielhaus. „Tannhäuser“, Mitte der 60er Jahre. Die besten Sammler fürs „Müttergenesungswerk“ hatten Generalprobenkarten bekommen. Jess Thomas und Anja Silja sangen – ich war hin und weg. Bis dahin hatte ich nur einen „Freischütz“ in Coburg besucht, Lehárs „Paganini“ im Fernsehen gesehen, ausgiebig Loewe-Balladen mit Dietrich Fischer-Dieskau gehört und als Pfarrerskind natürlich – mehr schlecht als recht – Harmonium gespielt. Aber Siljas Jubel „Dich, teure Halle, grüß ich wieder“ hör ich heute noch!
Beer: Apropos teuer: Als Abiturientin lernte ich eine andere Seite der Festspiele kennen, als Bedienung im Festspielrestaurant. In einer Dienerfunktion merkt man schnell, wie sich die Leute unterscheiden…
Müller: … ob sie von Geld- oder von geistigem Adel sind…
„Da die Festspiele eine beschämende Geschichte haben, müsste es ein Informations-angebot für alle geben, die in die Stadt kommen.“
Beer: Die Unternehmerin