„Nein“, erwiderte ich leise. Auf der Pirsch waren laute Töne verpönt, das Wild sollte schließlich nicht „verschreckt“ werden.
„Schade“, antwortete Steffen. Er hatte mich schon öfters mit solchen Fragen gelöchert. Welche Befehle sie kennen würde, ob sie spurtreu, schusssicher und ähnliches sei. Ach was. Sie konnte „Sitz“ und „Bleib“ und „Friss“. Mehr brauchte es für mich nicht, hatte ich ihm erklärt, was er mit Unmut zur Kenntnis nahm. All seine begeisterten Schilderungen über die fast unglaublichen Fertigkeiten der Jagdhunde seiner befreundeten Waidmänner änderten daran nichts. Meinetwegen konnten sie angeschossenen Enten hinterherfliegen; sie taten es ja nur aus Jagdtrieb. Könnte Kira fliegen, dann hätte sie einen Erste-Hilfe-Kasten in der Schnauze baumeln.
Wir hatten den Hochstand erreicht, auf dem Steffen auf Wildschweine „ansitzen“ wollte. Nein, er wollte „Schwarzwild“ - die Wildschweine waren mehr für mich. Steffen legte Wert auf die korrekte Jägersprache. Ich wandte mich meinem unbrauchbaren Jagdhund zu.
„Du bleibst hier unten“, wisperte ich in ihre schwarzen Ohren und holte ihre Decke aus dem Rucksack. Ein bisschen bequem sollte sie es schließlich auch haben. Zufrieden ließ sie sich darauf nieder, rollte sich ein und knabberte zum Abschied ein wenig an meinen Stiefeln.
Steffen voran stiegen wir die steile Holzleiter hinauf. Leise und vorsichtig, zwei alte Waldläufer auf der Jagd. Einer bewaffnet mit Gewehr und Schießbedarf, der andere mit Nachtglas und heißem Tee. Zwei Freunde, die sich ein paar kalte Nachtstunden lang in einen engen Hochstand zwängen wollten, um dem edlen Waidwerk zu huldigen.
Es war nicht unser erster gemeinsamer Jagdausflug. Wir waren oft zusammen auf der Pirsch gewesen, lagen im Sommer und im Winter, bei Regen und Schnee, bei Sonnenlicht und stockdunkler Nacht auf der Lauer. Ich bin kein Jäger, auf jeden Fall keiner der schießenden Art. Meine Waffen waren das Fernglas und die Kamera. Und wir waren erfolgreich, es gab wohl kein jagdbares Wild, welches wir im Laufe der Jahre nicht aufgespürt hätten. Wir machten fette Beute. Nein, ich machte fette Beute, denn während unserer gemeinsamen Jagdausflüge fiel niemals ein Schuss. Wir sprachen nie darüber, warum er die Gelegenheit ausließ, mit einem schmackhaften Rehbraten heimzukehren. Wir wussten beide um die Gründe.
Aber dies war unsere erste Ansitzjagd mit Kira. Während wir uns häuslich einrichteten, die Decken ausbreiteten, Tee einschenkten und mit scharfem Blick das Terrain sondierten, lag sie ruhig und zufrieden unten auf ihrer Decke.
Die Wildschweine ließen uns warten. Zwar hörten wir ihr Grunzen und ihr Schmatzen, aber die Schwarzkittel taten uns nicht den Gefallen, sich zu nähern. Dann entfernten sich die Geräusche und verstummten schließlich ganz.
Leise unterhielten wir uns. Über Tierisches und Menschliches. Wir hatten uns viel zu erzählen, war ich doch ein paar Jahre lang fern der Heimat gewesen. Und während wir in unser leises Gespräch vertieft waren, vernahmen wir ein Kratzen, das uns aufhorchen ließ. Die Ursache dieses Geräusches konnte nicht allzu weit entfernt sein. Und jetzt kam noch ein Schnaufen hinzu. Kamen die Wildschweine zurück?
Vorsichtig schauten wir hinaus auf die kleine Lichtung. Bewegten sich die Zweige der dahinter liegenden Büsche? Lag vielleicht ein herber Geruch, der entfernt an „Maggi“ erinnerte, in der Luft?
Nein, von beidem war nichts zu bemerken. Die seltsamen Geräusche waren deutlicher geworden, kamen näher. Wildschweine konnten es wohl doch nicht sein. Und es klang so, als käme es die Leiter hinauf.
„Dachs?“, fragte ich leise.
„Vielleicht“, wisperte es zurück.
„Oh, Schiet“, platzte ich heraus und sprang auf. Was war mit Kira? Hatte sie sich vielleicht aus dem Staub gemacht, als der alte Grimbart aufgetaucht war? Sie war gewiss kein Feigling, aber so ein ausgewachsenes Exemplar der Gattung „Meles meles“ war nicht ohne.
Mit Schwung riss ich die Tür auf und schaute die steile Leiter hinunter. Tatsächlich, da kam ein Riesenbrocken hochgekrochen, schleppte sich mühsam von Holm zu Holm. Zum ersten Mal in meiner „Jagdlaufbahn“ war ich versucht, nach dem Gewehr zu greifen und auf den weiter kletternden Schatten anzulegen. Neben mir tauchte Steffen auf, den sonst im Rucksack tief vergrabenen Revolver in der Hand, der zur „Eigensicherung“ und zum „Erlösen“ waidwunder Tiere gedacht war.
„Das gibt es ja nicht“, stieß er aus, als er das seltsame Wesen erblickte. Ich musste ihm zustimmen. Eine Schnauze mit breitem Grinsen und heraushängender Zunge hechelte mir entgegen, während sich die schwarzen Pfoten weiterhin abmühten, den nächsten Holm zu erreichen. Ein ebenfalls schwarzer Schwanz – oder sollte es doch besser Rute heißen? – wedelte bei meinem Anblick so freudig, dass ich Angst hatte, die dadurch entstehenden Zentrifugalkräfte würden den Kletterkünstler von der Leiter fegen.
Sie hatte es fast geschafft. Der Hochsitz stand gewiss fünf Meter über dem Boden und es fehlten nur noch knappe eineinhalb Meter. Helfen konnte ich ihr nicht; dafür hätte ich über sie hinweg springen müssen. Aber das brauchte ich auch nicht. Die letzten drei Holme bewältigte sie fast wie im Flug.
Zufrieden mit sich selber legte Kira sich auf den Boden, leckte ausgiebig unsere Hände und klopfte mit wedelndem Schwanz die Borke von den roh gezimmerten Seitenwänden. Sollten doch noch Wildschweine in der Nähe gewesen sein, so hätten sie sich bei diesen Trommelschlägen der Freude tief in die Wälder zurückgezogen.
„Ach, ja!“, sagte ich zu meinem Jagdgenossen, als wir wieder aus dem Wald heraus waren und durch hohe Schneewehen nach Hause stiefelten. Kira trabte zufrieden durch die weiße Landschaft, die Nase tief über eine Fährte im Schnee gebeugt. Der Abstieg vom Hochsitz war ein wenig mühsamer gewesen; ich hatte mir ihre 35 Kilo unter den Arm klemmen müssen und mich unter Ächzen und Stöhnen hinunter geplagt.
„Vielleicht kann sie „Bleib“ noch nicht so richtig. Aber klettern kann sie. Und mich gerne haben.“
Und dabei blieb es. Er fragte nie mehr, ob Kira dieses oder jenes könne. Sie kann einfach alles, was wichtig ist. Basta.
Der Martinsfischer
von Gregor Schürer
Es war ein kühler, aber sonniger Tag im Oktober und Martin von Tours war zu Fuß unterwegs. Er war schon ein gutes Stück gegangen, als er an einen See kam und sich dort am Ufer niedersetzte, um zu rasten. Es war ein wunderschöner Teich, auf dem Seerosen blühten. Martin war ganz vertieft in den Anblick der prächtigen Blumen, als er ein Geräusch hörte. Er bemerkte einen Vogel, der in einem nahen Busch saß. Beinahe hätte er ihn in den dunklen Zweigen gar nicht gesehen, denn der nicht sehr große Vogel trug ein schmutziggraues Gefieder, das ihn gut im Geäst verbarg. In diesem Moment flog der Vogel davon und Martin schaute ihm interessiert hinterher. Mit spielerischer Leichtigkeit hob der gefiederte Geselle sich in die Lüfte, um sich in einem hohen Baum in der Nähe niederzulassen und regungslos zu verharren.
Martin wollte schon fast den Blick wieder von ihm wenden, als sich der Vogel aus großer Höhe ins Wasser stürzte. Tief tauchte er in den See ein, eine Nickhaut zog sich über sein Auge, damit er auch unter Wasser sehen konnte. Sein langer spitzer Schnabel schnappte eine kleine Forelle und mit seiner noch zappelnden Beute tauchte der Vogel zurück an die Wasseroberfläche. Er flog ans Ufer und verschluckte den ganzen Fisch mit dem Kopf voran. Dann setzte er sich wieder in den Busch in Martins Nähe.
Martin von Tours sprach den kleinen Vogel an. „Sag mal, was bist du denn für einer?“
Sogleich kam der Vogel herbei und zwitscherte aufgeregt, denn er war es nicht gewohnt, dass ihn jemand beachtete. Meist wurde er wegen seiner unscheinbaren grauen Farbe gar nicht gesehen, galt wegen des schmutzig dunklen Gefieders vielen sogar als hässlich. Und da er kaum beachtet wurde, kannten die Menschen auch seine Flugkünste und seine Fähigkeiten im Stoßtauchen nicht, die ihn hätten interessant machen können.
Weil Martin sich über den gehorsamen Vogel freute, der nicht verschreckt davongeflogen, sondern brav zu ihm gekommen