Van war froh, dass er in dieser Form er selbst sein konnte. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte jede Verwandlung Schmerz, Blut und Tod bedeutet. Nicht allzu lang her, ein paar Wochen, nicht mehr, erschien es ihm doch wie eine Ewigkeit. Keine Schmerzen, solang er an sie dabei dachte. Sich für sie verwandelte, nicht aus Wut, Erregung oder Hass. Er hatte die Kontrolle. Nicht das Biest. Er leckte seine Pfote ab und strich sich über Ohr und Gesicht. Er wusste, er würde es bereuen, wenn der Fellknäul sich wieder auf natürlichem Wege seine Bahn nach draußen kämpfen würde, aber es waren Instinkte, die er nicht unterdrücken konnte. Außerdem fühlte es sich im Hier und Jetzt gut an.
In seinem Herzen wusste er, was er noch nicht zugeben konnte. Das Biest war er und er das Biest. Doch wenn Van das als seine Wahrheit akzeptieren würde, würde all das Blut das an dem Biest klebte, zu seinem werden, und er war noch nicht stark genug, diese Sünden auf sich zu nehmen.
Als er mit dem Putzen fertig war, hüpfte er auf einen der Container und blickte in den Himmel. Die Sonne leuchte ihm grell ins Gesicht und er blinzelte. Ihre Strahlen schienen auf sein Fell, wärmte ihn gegen den kalten Wind des Meeres. Er wandte den Blick wieder zum Meer. Weit und breit nur Wasser, das die Sonnenstrahlen reflektierte. Hoffentlich blieb das Wetter so. Wenn Lina bei solch leichtem Wellengang so sensibel reagiert, wollte er nicht wissen, wie es ihr bei einem Sturm gehen würde.
An seine letzte Fahrt erinnerte er sich nur ungerne. Der Frachter, kleiner und weniger beladen, hatte ihn an das gleiche Ziel gebracht. Die See war stürmisch gewesen und er hatte sich mehr als nur einmal in eine reißende Wildkatze verwandelt. Seine Kajüte, mit einer Stahltür versehen, war abgeschlossen gewesen. Nach Tagen wieder bei sich, hatte er die Tür zerkratzt und ausgedellt, aber immer noch verschlossen vorgefunden. Kein Leben war dem Biest zum Opfer gefallen. Nicht zu dieser Zeit.
Hoch lebe das Wirtschaftsdenken der Logistiker, denn schon damals waren die Kajüten nie voll und die Mannschaft auf ein Minimum reduziert. Zum Glück hatte man Toiletten und Duschen bei der Erbauung des Schiffes eingeplant, bei den neuen Generationen würden sie sicher wegrationalisiert werden. Was nützte es mehr als einmal die Woche zu duschen? Und Kloaken endeten sowieso im Meer. Wieso also den umständlichen Weg über die Toilette?
Nach ein paar Stunden in Sonne und Wind knurrte Vans Magen und er machte sich auf den Weg zurück zur Kajüte. Er überlegte kurz, ob er sich wieder in einen Menschen verwandeln sollte, und entschied sich dagegen. Van streckte sich, wuchs ein wenig, bis er die Klinke zu fassen bekam und öffnete mit seinen Pfoten die Tür. Lina lag mit geschlossenen Augen auf dem Bett, den Eimer neben sich. Er war leer. Sie hatte wohl die Toilette gefunden. Seine empfindliche Nase war ihr dankbar. Leise ging er zu der Tasche mit Proviant und versuchte, den Reisverschluss mit den Pfoten zu öffnen, was sie nicht nur als schwierig, sondern als unmöglich erwies.
Er gab diese Idee auf und probierte es mit den Zähnen. Es dauerte eine Weile, bis es ihm gelang, einen Zahn in die Öse einzufädeln. Dann biss er vorsichtig zu und zog daran. Der Reisverschluss bewegte sich ein Stück, dann sprang die Öse von seinem Zahn. Er knurrte verärgert und machte sich wieder daran die Öse aufzufädeln. Sein Kiefer war die viele Bewegung nicht gewöhnt und schrie nach wenigen Minuten vor Schmerz auf.
Van hatte gerade wieder den Zahn in die Öffnung bekommen, als ein leises, ersticktes Lachen ihn ablenkte und er sie wieder verlor. Verstört blickte er vom Reisverschluss zu Lina, die sich die Hand vor dem Mund hielt und Tränen lachte. Verärgert lief er in die andere Ecke des Zimmers und rollte sich beleidigt zusammen. Lina stand mit wackeligen Beinen auf, ging zur Tasche und öffnete den Reisverschluss. Entgegen sprangen ihr verschiedene kombini Plastiktüten mit onigiri - Reisbällchen, bento-Boxen, getrocknetem Tintenfisch, Chips, Wasser, Alkopops, Bier, Tee. Die ganze Tasche war voll mit allem, was das Herz begehrte.
Lina packte sich den getrockneten Tunfisch, ein paar onigiri, Wasser und ein Bier. Dann wackelte sie wieder zu der Koje zurück, setzte sich in die Hocke und klopfte neben sich auf das Bett: „Oide – komm her!“ Van war immer noch beleidigt, doch sein Magen trieb ihn zu Lina und dem Essen.
„Willst du etwas vom Tunfisch?“, fragte Lina. Ihre Stimme klang immer noch schwach und Van konnte ihr nicht mehr böse sein. Er nickte und wartete, bis Lina die Tüte mit leicht zitternden Händen aufgerissen hatte. Dann hielt sie ihm ein paar Streifen hin. Van legte sich auf den Bauch, streckte seine Vorderpfoten aus und ließ sich bedienen. Jeder in seiner kleinen Gedankenwelt gefangen, wurde ein zufriedener Van gefüttert, während eine schmunzelnde Lina sich aus der Hand fressen ließ. Sie selbst trank viel Wasser und es gelang ihr, eines der dreieckigen Reisbällchen bei sich zu behalten.
Dann öffnete sie die Dose Bier und hielt sie leicht schräg, so dass Van daraus trinken konnte. Seine Zunge schleckte den Schaum ab und benetzte den Gaumen mit ein wenig Alkohol. Lina beäugte ihn neidisch, traute sich jedoch noch nicht an die Alkopops.
„Geht es dir besser?“, erklang Vans Stimme in Linas Geist. Lina nickte schwach. Sie hing ja schließlich nicht mehr mit dem Kopf über dem Eimer. Sie war enttäuscht. Lina hatte immer geglaubt, dass, wenn sie seekrank werden würde, sie über einer Reling hängen und ihr Innerstes über dem Meer verteilen würden. Und nicht über einem alten Wascheimer in einer muffigen, dunklen Kajüte. Bei den Bildern, die Linas Geist Van zeigten, schüttelte er nur verständnislos den Kopf. Wo war bitte der Unterschied? Ob man nun über dem Eimer hing oder über der Reling. Schlecht ging es einem dabei in gleichem Maße.
Bilder von Meereswind, der einem die Haare ums Gesicht peitschte, erfüllten Linas Geist. Wasser wohin das Auge reichte. Die Sonne schien von einem blauen Himmel herunter. Das Gefühl der Kopf würde sich drehen und man wusste nicht mehr, ob sich der Himmel im Meer spiegelt, oder das Meer im Himmel. Wären ihre Beine nicht so wackelig gewesen, wäre sie nach oben geeilt, um sich mit eigenen Augen an dem Schauspiel zu ergötzen. Sie schüttelte den Gedanken ab und fragte stattdessen: „Wo fahren wir eigentlich hin?“
„Shanghai“, antwortete Van, während er an einem großen Stück Tintenfisch kaute.
„Shanghai?“, fragte Lina überrascht und kraulte sich den verstimmten Magen, in der Hoffnung, sie würde den onigiri nicht sobald wiedersehen.
„Shanghai!“ Van öffnete und schloss den Kiefer, als hätte er einen zähen Kaugummi im Maul. Bei dem Gedanken an eine Kaugummi kauende Katze musste Lina ein Lachen unterdrücken.
„Und was wollen wir da?“, fragte sie, als Vans blaue Augen sie irritiert fixierten.
„Von dort aus fliegen wir Nach Indien.“ Blaue Augen trafen auf fragende grüne.
„Indien?“ Indien stand nicht auf Linas „Must have seen“ Liste von Ländern.
„Indien!“, erklang es in Linas Kopf, während die Katze vor ihr weiterkaute.
„Und was wollen wir da?“ Lina kannte sich mit der indischen Mythologie nicht aus. In einem Land in dem der Buddhismus geboren worden war, musste es vieles geben, dem Lina nicht begegnen wollte. Sie hatte genug von übernatürlichen Wesen und Göttern. Vielleicht würde plötzlich eine Kuh mit ihr sprechen. Kühe waren dort schließlich heilig. Bei dem Gedanken wurde jedoch Linas Neugier geweckt. Ihr Blick bohrte sich in die Katze vor ihr, die telepathisch mit ihr kommunizierte und sie stellte sich eine Kuh vor, die sie mit riesigen Augen anblickte und mit ihr sprach. Während sie kaute. Kühe taten schließlich den ganzen Tag nichts als Kauen.
„Von dort aus fliegen wir nach Katmandu.“ Van war verärgert von dem Vergleich mit einer Kuh und hörte auf zu kauen, schluckte die zähe Masse auf einmal herunter und wäre beinahe daran erstickt. Versuchte jedoch, sich nichts anmerken zu lassen.
„Katmandu?“ Nepal? Was zum Kuckuck wollten sie in Nepal?
„Katmandu!“, bestätigte Van, während er hart daran arbeitete, seine Bemühung, nicht