Ich hörte den Aufprall seines Körpers auf dem Sandboden jenseits der Mauer …
Einen Augenblick lang stand ich wie erstarrt da. Er gab keinen Laut mehr von sich. Verhaltene Stimmen und die Schritte schwerer Stiefel waren vom asphaltierten Fahrweg hinter dem Todesstreifen zu hören. Ich überquerte eilig die Straße, um nicht in ein Verhör mit der Westberliner Polizei verwickelt zu werden, die jetzt bald auftauchen würde.
Als ich in die Potsdamer Straße einbog, entdeckte ich den schwarzen Mercedes …
Er parkte einsam im Schatten des Eckhauses unter einer ausgeschalteten Straßenlaterne.
Während ich auf ihn zuging, rollte er langsam vor, und als er wendete, erkannte ich F.s kahlen bebrillten Schädel durch die Windschutzscheibe. Er saß auf dem Beifahrersitz und wandte den Kopf ab, als er mich sah. Dann fuhr der Wagen in Richtung Moabit davon.
Am nächsten Morgen entdeckte ich in der Zeitung eine Notiz über den Zwischenfall. Einen mageren Sechszeiler, in dem es hieß, der Bulgare habe abends »gegen 22 Uhr aus bisher ungeklärten Gründen« die psychiatrische Abteilung des Wilmersdorfer Krankenhauses verlassen.
Ein ärgerlicher Lapsus für F., dachte ich, denn auf Publicity konnte er nicht versessen sein.
Aber als ich ihn am Nachmittag traf, zeigte er sich erstaunlich gelassen. Er saß mir an seinem großen, unaufgeräumten Schreibtisch in der Zentrale gegenüber, die, seit ich ihn kannte, immer im Begriff war, wegen der angeblichen Gefahr der Enttarnung verlegt zu werden, kaute wie gewöhnlich Weingummibärchen und zeigte nicht die Spur einer Verunsicherung. Angeblich hatte man ihn gerade erst telefonisch über den Vorfall unterrichtet. Zum Glück gab es keine Fotos von dem Mann auf der Mauer. Die Zeitungsnotiz stützte sich auf Zeugenaussagen.
An jenem Nachmittag kam mir der Verdacht, sie hätten ihn auf irgendeine Weise dazu gebracht, in den Osten zu klettern – ich weiß nicht, mit welch dreckigem Trick und was sie ihm dazu eingeredet hatten …
Jedenfalls war es ein sauberer Tod für F’s Leute, an dem sich niemand die Hände schmutzig zu machen brauchte …
Der Grund für seine Einlieferung in die psychiatrische Abteilung blieb allerdings mysteriös. Während der Verhöre hatte er keine Anzeichen einer psychischen Krankheit erkennen lassen (durch meine frühere Tätigkeit als Staatsanwalt glaubte ich davon genug zu verstehen). Aber ich versuchte nicht einmal, darauf anzuspielen.
Ich fragte F. nicht nach dem Mercedes an der Straßenecke – er hätte es ohnehin geleugnet.
Ich fragte ihn auch nicht, wer dem Bulgaren die Stelle genannt und wer den VW-Transporter mit der Holzleiter so dicht an der Mauer geparkt hatte.
Am späten Abend kehrte ich noch einmal an die Stelle in der Bellevuestraße zurück und vergewisserte mich, dass man die Kletterpartie des Alten vom Parkplatz des Mercedes hatte beobachten können. Es war der Punkt, von dem aus man eben noch an der Hausecke vorbeisah.
Die Stelle, wo der Transporter gestanden hatte, war leer. Ich nahm an, dass es F. keine Schwierigkeiten bereitet hatte, sich den Wagen für einige Stunden zu besorgen; und ebenso sicher erschien es mir, dass sein Fahrer – den unwahrscheinlichen Fall vorausgesetzt, dass sich jemand die Fahrzeugnummer des Transporters notiert hatte – beweisen können würde, in einem der Häuser gegenüber einen »dringenden Auftrag« erledigt zu haben.
2
Kofler schien ernsthaft zu glauben, er beziehe sein Ein-Zimmer-Apartment nur, um eine Weile vor der Neugier westlicher Journalisten geschützt zu werden. Jedenfalls gab er vor, das zu glauben – und er spielte seine Rolle gut …
Mir fiel auf, mit welcher Unbefangenheit er auch auf heiklere Fragen einging. Ein Marxist ohne eine Spur bürokratischer Kleinkariertheit oder jenem Hang zu weltanschaulicher Eiferei, die ich so oft an seinen Genossen beobachtet hatte.
Aus Gründen, die ich noch nicht durchschaute, hielt ich ihn sogar für einen ausgemachten Epikureer. Ein Zug, der mir imponierte, weil ich selbst eher dem anderen Lager angehöre, »der melancholischen Fraktion«, wenn man so will (glücklicherweise verschaffte mir F. ein ausgezeichnetes Medikament dagegen).
Bei alledem wirkte er zurückhaltend und schien ungern über seine Ansichten zu reden. Ein großer, braungebrannter Mann in den Sechzigern mit schütterem, zurückgekämmtem Haar, blassen Sommersprossen, die überall auf seiner runzligen, an einigen Stellen rötlich durchscheinenden Haut zu sehen waren, und einem kaum merklichen nervösen Tick, den Kopf ruckartig nach links zu werfen, als versuche er auf diese Weise seinen Geist von der materiellen Gebundenheit des Rumpfes zu befreien – eine Bewegung, die derart suggestiv auf mich wirkte, dass ich mich schon am zweiten Tag dabei ertappte, ihn nachzuahmen.
In der Tat – es klappte!
Aus irgendeinem Grund, vielleicht durch eine Manipulation der Nervenbahnen im Nacken, ließ sich auf diese Weise die Konzentration verbessern.
Ich musste lachen, wenn ich mir vorstellte, wie wir beide in den nächsten Wochen – er nach links und ich nach rechts – mit dem gleichen Kopftick Fragen und Antworten austauschen würden.
Ich verstand, dass man im Westen seinen Einfluss auf die Jugend fürchtete.
Etwas lag in seiner Haltung, seiner Art zu reden und zu gestikulieren, das auch Jüngere akzeptieren konnten. Er war Pole, aber gebürtiger Deutscher.
Seine Eltern hatten bis vierunddreißig in Leipzig gelebt und waren dann zu Verwandten in der Nähe von Warschau gezogen. Er sprach so gut Polnisch wie Deutsch. Und als sein Einfluss in der polnischen Gewerkschaftsbewegung zunahm, enthob man ihn seines Postens an der Universität.
Dabei war er erst sehr spät zur Soziologie und Sozialpsychologie übergewechselt und damit in jenen theoretischen und gesellschaftlich relevanten Bereich, der ihn angeblich für die östliche Führung gefährlich werden ließ.
Seine ursprüngliche Laufbahn war die eines Kriminologen an der Krakauer Universität gewesen, und er hatte es dort bis zu einem Lehrstuhl gebracht (es war die Nahtstelle, an der F. seine Verbindung zum KGB vermutete). Aber eines Tages musste er sein Interesse für die soziologischen und sozialphilosophischen Aspekte des Marxismus entdeckt haben, die Analyse von Fingerabdrücken, Blut und Sekreten befriedigte ihn nicht mehr.
Denn, ein halbes Jahr später, als sich eine radikale Jugendbewegung um ihn bildete, eine Entwicklung, die er nicht gewollt hatte und zutiefst bedauerte, und nachdem ohne Wissen der Partei in Großbritannien ein Buch mit dem Titel »What is to be done?« erschienen war, dessen Übersetzung er als eine grobe Verfälschung seiner Ideen ansah, hatte man ihn zunächst in die DDR ausgewiesen.
Nach einer Art Schamfrist war er dann gestern Morgen am Übergang Friedrichstraße von F.s Leuten in Empfang genommen worden.
Das Buch war auf Polnisch geschrieben und von einem nach London emigrierten Weißrussen namens Kremiew unautorisiert übersetzt worden – einer etwas obskuren Gestalt, weshalb der Verdacht nahelag, es handele sich um eine fingierte Falsch-Übersetzung, also ein von der Partei forciertes Machwerk, um Kofler abschieben zu können.
So jedenfalls lautete die östliche Version, die man uns glauben machen wollte.
F. hielt es für ein großangelegtes, von langer Hand vorbereitetes Komplott. Man baute eine Führerpersönlichkeit auf, die für den Osten zu rechts, für den Westen aber zu links war, ihre Aufgabe: das ideologische Vakuum im Westen auszufüllen, kleine Zellen des Widerstandes zu bilden und schließlich eine breite Massenbewegung.
Schon seit längerem konnte man beobachten, dass man im Osten nicht mehr auf die Überzeugungskraft der kommunistischen Ideologie setzte, sondern auf Persönlichkeiten. »Cheguevarismus« war das neudeutsche Wort, das F. dafür