Kalter Krieg im Spiegel. Peter Schmidt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Peter Schmidt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847658351
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Kode in Ihrem Notizbuch«, begann er achselzuckend. »Leider ist er kniffliger, als ich angenommen hätte. Was halten Sie davon, wenn … ich meine: Kofler hatte doch einen Lehrstuhl für Kriminologie, oder? Natürlich weiß ich nicht, ob er sich damit befasst hat – aber es würde mich wirklich interessieren, welches System dahintersteckt.«

      Er blickte mich so arglos aus seinen wasserhellen norddeutschen Augen an, dass mir keine passende Antwort darauf einfiel. Natürlich war es leichtsinnig. »Meinetwegen«, nickte ich. »Zeigen Sie ihm nur die beiden ersten Seiten, damit er nicht gleich den ganzen Zusammenhang erfährt.

      Schließlich gehört er ja jetzt so gut wie zur Familie«, sagte ich, bevor ich die Tür schloss.

      »Dann gute Nacht«, murmelte er mir nach.

      Nachdem ich mich aufs Bett gesetzt hatte, sah ich mir die Papiere noch einmal genauer an. Meine Gedanken schweiften öfter ab und ich dachte mehr an F.s Reaktion auf das Ergebnis meiner Untersuchung und die Fahrt, als an das Notizbuch und die Signaturen. Ich musste mich zwingen, den Text zu verstehen.

      Das eine Blatt war die kleingedruckte technische Beschreibung einer Art Schusswaffe (die Buchstaben flimmerten mir vor den Augen). Rohr und Griff ähnelten einer Panzerfaust. Ebenso die Handhabung. Man legte sich das Rohr über die Schulter. Der Rohrdurchmesser war jedoch kleiner als der einer Panzer-Abwehrwaffe. Auf dem Rohr befand sich ein Zielfernrohr. Zwei Zeichnungen illustrierten, wie das Gerät getragen und in Anschlag gebracht wurde. Irgendeine Neuheit nach Maschinengewehren, Granatwerfern, Geschützen, Handgranaten usw., für die das Militär in aller Welt täglich 1,3 Milliarden Mark ausgab, glaubte ich zunächst (ich hatte kein Verhältnis zu Waffen; wenn ich an Pysiks Schwarzpulverwaffe dachte, dann höchstens ein negatives).

      Denn soviel kostete den Menschen seine Aggressivität allein im Rüstungsbereich, würde Kofler bemerkt haben. Doch bei genauerem Hinsehen entdeckte ich, dass es sich kaum in die bekannten Waffenkategorien einordnen ließ: Es verschoss Gummibälle … Tennisartige Gummikugeln mit »extremweicher Hülle und federnd-hartem Kern«, wie es in der Beschreibung hieß. Ich wurde plötzlich hellwach und las den Text zweimal, um herauszufinden, wozu man Gummibälle mit »extrem weicher Hülle« verschoss.

      Aber der Zweck war mysteriös; darüber wurde nichts gesagt. Man versicherte lediglich, dass ein Mensch, dem man damit in den Rücken schoss, keine Verwundung davontragen würde – von einer leichten Prellung abgesehen.

      Als idealer Auftreffpunkt war der Wirbelsäulenansatz über der Hüfte angegeben. Wenn das Opfer ging, wurde es etwa drei Meter fünfzig in die Richtung seiner Schritte geworfen. Stand es, so waren es nur zwei bis zweieinhalb Meter. Der Zweck schien für Eingeweihte offenbar selbstverständlich zu sein. Um eine Polizeiwaffe für Straßenschlachten oder ausartende Demonstrationen handelte es sich wohl kaum, denn in einer Menschenmenge würde der Ball nach dem Aufprall unkontrolliert durch die Gegend hüpfen; außerdem war der Schlag auch nicht schmerzhaft genug.

      Das andere Blatt schilderte die technischen Finessen einer »Eisspitzen-Pistole«, die mit Druckluft arbeitete: gefrorenes Gift wurde in den Körper des Opfers geschossen (etwa so, wie sich Klein Erna die Arbeit eines Geheimdienst-Killers vorstellte) – der winzige Einstich und Schmerz war dem einer Spritze vergleichbar.

      Wenn die Eisnadel auftaute, was wegen der Körperwärme innerhalb weniger Sekunden geschah, begann das Mittel zu wirken. Im Gedränge einer Menschenansammlung oder bei schneller Bewegung – etwa während eines Trimmlaufs – wurde der Einstich unter Umständen gar nicht bemerkt. Ich hielt es für unwahrscheinlich, dass F.s Leute damit arbeiteten,

      denn Gift ließ sich schließlich bei einer Obduktion nachweisen. Das Prinzip war seit langem bekannt. Lediglich die technische Ausführung wies einige Neuerungen und Feinheiten auf. Der »freiwillige« Sprung des Bulgaren von der Mauer in den Kugelhagel der Grenzsoldaten deutete eher darauf hin, dass F. auf derart plumpe Mittel verzichtete, weil er längst über geeignetere Methoden verfügte. Die Gummiball-Waffe dagegen war eine Neuheit für mich; allerdings blieb ihr genauer Zweck mir nach wie vor unklar.

      Ich verglich die Signaturen ein zweites Mal. Dass ich die Papiere nicht unterzeichnet hatte, war sicher (was immer das bedeuten mochte – denn je länger ich darüber nachdachte, desto ungewisser schien mir, dass es überhaupt etwas Sicheres gab: womöglich war das, was ich unter dem Einfluss des Amphetons erlebte, die »wahre Realität«).

      Ein C besteht gewöhnlich aus nicht viel mehr als einem Bogen – die Variationsmöglichkeiten sind nicht sehr groß. Es konnte sich durchaus um das C für »Chef« und nicht für »Cordes« handeln, die Übereinstimmung war dann bloß zufällig. Solche Zufälle sind geeignet, dem Verfolgungswahn, der die beinahe zwangsläufige Form des Gewerbes ist, ständig neue Nahrung zu geben: Man reimt sich aus Ahnungen und Andeutungen etwas zusammen (wohl auch aus dem, was man gesehen haben will); der christliche Glaube, wir hätten vor der Vertreibung aus dem Paradies »vom Baume der Erkenntnis« gegessen, entpuppt sich so als lächerliche Übertreibung.

      Jedenfalls war es kein Beweis – allenfalls ein Hinweis, ein weiteres Indiz dafür, dass hinter der Chef-Geschichte mehr stecken konnte als nur das Gerede der Mädchen. Meine regulären Berichte unterschrieb ich mit vollem Namen.

      Nachdem ich die Blätter in den Ascher gelegt hatte, der neben dem Bett auf der Konsole stand, zündete ich sie an und beobachtete, wie die bläuliche Flamme sich züngelnd in sie hineinfraß. Chemischer Geruch alten Kopierpapiers der ersten Generation stieg auf. In dieser Beziehung war die Organisation rückständig wie eine überalterte Firma:

      Man investierte lieber in »Eisspitzen-Pistolen« als in neue Kopierautomaten.

      Ich zerdrückte die Aschenreste mit dem Feuerzeug; dann drehte ich das Licht aus und legte mich auf die Seite.

      Eine schwere Hand ergriff meine Schulter und rüttelte mich wach (aber irgend etwas – vermutlich das vertraute Ego – hatte wenig Bedürfnis, in die Wirklichkeit zurückzukehren).

      »Schlafen Sie immer in Schuhen, Cordes …?«, erkundigte sich F.s dröhnende Stimme; seine wimpernlosen Augen waren dicht über mir (und sein Kehlkopf schien mitten in meinem Gehörgang zu sitzen).

      Ich sah in das teigige, merkwürdig konturlose Gesicht und kam mir plötzlich vor wie ein Säugling, der hilflos im Wägelchen liegt und vor dem Anblick eines Fremden erschrickt – wie vor jemandem, der nicht Vater oder Mutter ist und der daher »böse« sein muss. Ja, es war die Physiognomie des Bösen. In der Beziehung würde es keine Überraschung mehr geben, das war mir schon lange klar. Keine Allegorie mit Hörnern und Pferdefuß, auch kein ausgehöhlter Totenschädel, sondern die leibhaftige Gestalt der Konturlosigkeit (denn das Gute ist entschieden und hat Profil, würde Kofler gesagt haben).

      »Was, zum Teufel, ist los mit Ihnen?«, fragte er. »Warum starren Sie mich so an? … Haben Sie wieder dieses verdammte Zeug geschluckt?«

      »Es ist bloß der Kater«, sagte ich und richtete mich auf.

      Er hielt mir einen braunen Umschlag unter die Nase. »Schauen Sie sich das an. Es wird Ihre Kopfschmerzen noch verstärken«, meinte er ironisch.

      »Was ist das?«

      »Es sind Fotos, die unser Kurier aus Ost-Berlin herübergebracht hat. Sie wurden mit dem Teleobjektiv vom Dach eines Hochhauses in Budapest aufgenommen – drei Personen, durch ein Fenster des gegenüberliegenden Gebäudes fotografiert: Kofler in einträchtigem Gespräch mit den Spitzen des Ostberliner Ministeriums für Staatssicherheit, Wholff und Achenbach … Wir haben lange auf diese Bilder gewartet«, erklärte er genüsslich lächelnd. »Unser Mann in Budapest musste leider für eine Weile untertauchen. Die Fahrt nach Frankfurt und Bochum dürfte sich unter diesen Umständen eigentlich erübrigen – aber ich schlag vor, dass Sie sich wenigstens die Bochumer ansehen – eine besonders radikale Gruppe –‚ damit Sie eine Vorstellung davon bekommen, um weiche Sorte von linken Fanatikern es sich handelt.«

      Ich nahm die Hochglanzfotos heraus und sah sie mir an. Sie waren makellos wie Studioaufnahmen, weder grobkörnig noch verschwommen oder mit zuviel Schattenpartien, und die beiden Männer, mit denen Kofler an einem Tisch nahe beim Fenster verhandelte, waren zweifellos Wholff und Achenbach. Es gab nur