Carmen im Kopfhörer. Jochen Sommer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jochen Sommer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844259858
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Ehejahren konnte es nur eine vernünftige Erklärung geben: Schlechtes Gewissen.

      Vom Kaufhaus in der Stadtmitte war es nicht weit zu Rainers Behörde, und Beate verschob ihre Einkäufe auf den Nachmittag, um bei Büroschluss die Auffahrt der Tiefgarage beobachten zu können. Und tatsächlich verließ Rainer an den Tagen, an denen er mal wieder ‚Akten aufarbeitete’, pünktlich seinen Arbeitsplatz. Er log recht überzeugend, wenn er anschließend seinen Ärger wegen der vielen Überstunden vorbrachte.

      Sollte wirklich eine andere Frau, überlegte Beate ungläubig, Gefallen an diesem farblosen Mann gefunden haben? Nun ja, sie selbst war ja auch nicht überkritisch gewesen, als es ums Heiraten ging. Und etwas Anderes konnte jene Frau nicht wollen. Für ein romantisches, leidenschaftliches Abenteuer hätte sie Rainer, ausgerechnet, nicht erwählt.

      Es war also ernst. Rainer zurückgewinnen – darum ging es nicht. Allein in der Wohnung oder vor dem Fernsehgerät, darum ging es.

      Am nächsten Vormittag telefonierte Beate mit ihrer Mutter und lud sich zum Mittagessen ein. Ihren Vater schickten sie anschließend in den Vorgarten zum Heckenschneiden. Beate erzählte von Rainers unbewiesener Untreue, sprach über die Prinzipien, die sie, die Mutter, ihr anerzogen hatte und die ärgerliche Konsequenz, die sie deshalb ziehen müsste: Rainer zu verlassen. Es wurde ein langes Gespräch, und Beate kam gerade noch rechtzeitig vor Rainer nach Hause.

      Gauguin, dachte Rainer, war er nicht. Er war klüger. Er lief nicht einfach weg, sondern ließ sich elegant fortschicken. Das war viel schwieriger. Er spürte, dass Beate seine Ausreden nicht mehr glaubte, dass sie einen Entschluss gefasst hatte, der für ihn die Freiheit bedeutete. Jetzt musste er ihr nur noch einen konkreten Anlass geben.

      Ins Bahnhofsrestaurant fuhr er an diesem Nachmittag nicht. Wie am Anfang ließ er seinen Wagen am Waldesrand stehen, spazierte zwischen unbekannten Bäumen umher und suchte nach dem Anlass. Weder die Käfer noch vereinzelte Eichhörnchen inspirierten ihn, und als er zum Wagen zurückkam, erwartete ihn Beate. Eine erleichterte Beate, die das Taxi, mit dem sie Rainers Wagen gefolgt war, zurückgeschickt hatte und froh war, dass Rainers Lügen diese harmlose Erklärung gefunden hatten.

      Die Konsequenzen, die sie sonst hätte ziehen müssen, zog sie nicht.

      Beethoven im Erdgeschoss

      Im weiten Bogen rollte die Kugel über das Parkett, lief einige Meter am Rand der Bahn entlang und fiel kraftlos in die seitliche Führungsrinne. Die Punktzahl – null – hatte der Schriftführer bereits eingetragen, als Rainer zögernd vorgelaufen und die Kugel nach kurzem Flug auf die Bahn geplumpst war.

      Mehr Punkte, dachte Rainer bedrückt, bekam er nur durch Zufall.

      Und selbst dann, wenn die Kugel den Kegeln korrekt entgegenrollte, befürchtete er, sie könnte auf der langen Bahn ermattet liegen bleiben oder diese weißen Holzfiguren nur sanft beiseiteschieben, statt sie umzustoßen. Außerdem belästigten ihn das kameradschaftliche Getue seiner Kollegen, das Poltern des auseinanderwirbelnden Holzes, die Biertrinkerei und der Geruch nach Zigarettenrauch und Schweiß.

      Schuld daran, dass er ihrer Büromannschaft beitreten und sich jeden Donnerstag im ‚Goldenen Anker’ blamieren musste, war natürlich Beate. Ihre Idee war es gewesen, Rainers überschüssige Energie von heimlichen Spaziergängen weg in geordnete Bahnen zu lenken, ihm die Möglichkeit zu geben, sich einmal wöchentlich ‚so richtig auszutoben’, wie sie es nannte.

      Der Erfolg gab ihr Recht. Missgelaunt und müde kam er anschließend nach Hause, sah lustlos dem laufenden Fernsehprogramm einige Minuten zu und ging schlafen.

      Aber Rainer schlief nicht. Er lag im Bett, atmete tief und regelmäßig, wenn Beate leise das Schlafzimmer betrat, und überlegte, wie er Kegelkugel und Frau endlich entrinnen könnte. Einen großen Unterschied zwischen beiden sah Rainer an solchen Abenden ohnehin nicht. Das schwache Licht, das die Vorhänge durchdrang, half seiner Phantasie, sich unter Beates hochgewölbter Bettdecke eine monströse Kegelkugel vorzustellen, die er Berge und Abhänge hinunterrollen lassen konnte, bis sie irgendwo zerplatzte oder in der Ferne verschwand. Selbst Beates Schnarchen ließ sich mit solchen Träumereien leichter ertragen, und erst das Geräusch des Weckers zwang ihn, der Realität ins Gesicht zu sehen. In Beates Gesicht.

      Am Morgen schien es ihm besonders unerfreulich zu sein, und Rainer beeilte sich aufzustehen. Zuspätkommen gab es bei ihm nicht.

      Pünktlich zu Dienstbeginn saß er am Schreibtisch, ordnete Akten und Verwaltungsvorgänge. Lediglich das Lachen der Kollegen, das ihm nach den Kegelabenden bis in den langen Bürokorridor entgegenhallte, störte ihn, da es stets abbrach, wenn er, Rainer, die Tür öffnete.

      Der einzige, über den er mitlachen durfte, war Ludwig. Ludwig saß im Büro nebenan und nahm ebenfalls an den Kegelabenden teil, obwohl er unverheiratet war. Wenn Rainer über die Freiheit dieses Kollegen nachdachte, wurde er neidisch; wenn er ihm gegenüberstand, mitleidig. Die traurigen Augen in dem alterslosen Gesicht weckten in Rainer ein Gefühl väterlicher Überlegenheit, und er musste sich zurückhalten, Ludwig den Arm um die Schulter zu legen und Tröstliches daherzureden. ‚Es wird alles gut’ oder ‚Kopf hoch!’. Davon abgesehen wäre Ludwig auch mit emporgerecktem Kopf nicht weiter aufgefallen. Irgendwann, nach weiteren Dienstjahren, würde er bestimmt ins Untergeschoss des Gebäudes versetzt, um dort als stellvertretender Archivleiter auf seine Pensionierung zu warten. Dabei war Ludwig nicht unintelligent. Wenn Rainer an Kegelabenden eine Partie ausließ, setzte er sich gern neben Ludwig, um mit ihm zu reden. Er mochte die leise, schüchterne Sprechweise, und es interessierte ihn herauszufinden, wer es fertiggebracht hatte, Ludwig so zu unterdrücken und zu ängstigen.

      Es war seine Mutter, bei der er immer noch wohnte, und es gab keinen Bereich, in den sie nicht sorgend und helfend eingriff. Von den Einlagen seiner Schuhe über baumwollene Oberhemden bis zur Auswahl seiner Freundinnen – überall schützte sie ihn vor Fehlentscheidungen. Besonders bei den Freundinnen. Hier war ihr Schutz so ausgeprägt, dass Ludwig nach einer qualvoll verlaufenen Jugendliebe keine weiteren schlechten Erfahrungen mehr verkraften musste. Gute auch nicht.

      „Was Ihnen fehlt“, sagte Rainer in Ludwigs traurige Augen hinein, „ist eine Frau. Eine, die gefestigt ist, die Ihnen die Kraft gibt, sich von Ihrer Mutter zu lösen.“

      Meine Frau, dachte Rainer plötzlich, Beate.

      Bei dieser überraschenden Lösung für Ludwigs Problem lehnte Rainer sich nachdenklich zurück, schlug die Beine übereinander und erlaubte sich ausnahmsweise eine Zigarette.

      Unter Rainers prüfendem Blick rutschte Ludwig beunruhigt auf dem harten Wirtshausstuhl umher und hätte gerne gewusst, worüber sein verständnisvoller Kollege nachdachte.

      „Ich glaube“, beugte sich Rainer vor, „ich kann Ihnen helfen. Wir beide sollten uns mal in Ruhe unterhalten. Ich finde, Sie sollten endlich beginnen, Ihr eigenes Leben zu leben.“

      Das fand Ludwig schon lange insgeheim, aber Rainer war der erste, der dieses Ansinnen so deutlich aussprach.

      „Es ist Ihr gutes Recht“, entschuldigte Rainer ihn und fragte: „Wie alt sind Sie eigentlich?“

      „Sechsunddreißig“, antwortete Ludwig kleinlaut.

      „Mein Gott! Sechsunddreißig!“ Rainers Lächeln wurde genießerisch. „Da hatte ich schon etliche wilde Jahre hinter mir“, log er und hätte es beinahe selbst geglaubt. „Aber zu alt ist es auch wieder nicht.“ Und nachdrücklicher: „Noch nicht.“

      Rainer trank sein Weinglas leer, sagte abschließend: „Überlegen Sie es sich“ und ging zum Tresen.

      Beinahe beschwingt ging er hin und beobachtete aus der Entfernung Ludwigs Gesicht. Shakespeare, kein Geringerer fiel ihm ein. Das Gift, das er in Ludwigs Ohr geträufelt hatte, begann zu wirken: Er rutschte nicht mehr verzagt auf seinem Stuhl herum, der arme Ludwig, sondern griff entschlossen nach seinem Schorleglas, nippte daran und stellte es energisch zurück.

      „Geben Sie mir noch einen Kurzen“, befahl Rainer der Wirtin und sah der Kugel nach, die Ludwig mit ungewohnter Heftigkeit an den Kegeln vorbeischoss. Gewonnen, dachte Rainer