Die Legenden des Karl Kirchhoff. Helmut H. Schulz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Helmut H. Schulz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738020496
Скачать книгу
Er fuhr mit der riesigen, behaarten Pranke und den kurznägeligen Fingern über den Kopf des Kindes. Er sah sich auf den Märkten, gesund, zugreifend, schlau - und das Bild entsprach mehr der Wirklichkeit als die Qualen, an die ihn sein Enkel zu erinnern suchte.

      „Am schwersten kaufen sich Hammel, lenkte er ab. Das wusste Karl schon, der sich wieder auf den Stuhl setzte. In die Stille hinein sagte der Opa sinnend: „Beinahe wäre dann doch alles im Eimer gewesen. Einer wohnte bei uns im Haus, der war bei den Roten. Als sie ihn holten, schrie er wie ein Kalb. Sie haben ihn gleich erschossen, ohne dass es geholfen hätte. Erst als Liebknecht totgeschlagen worden war, kriegten wir Ruhe. Da konnte ich mir endlich hier die „Friedliche Einkehr“ kaufen. Eine Eckkneipe. Der Berliner liebt Eckkneipen! Ich habe den Laden ganz schön hochgebracht. Ich war raus.“

      Karl begriff die Gewichtigkeit der Mitteilungen nicht, aber dass der Opa jetzt ernste Dinge erwähnte, war leicht ersichtlich. Sie mussten einen erschießen und diesen Liebknecht totschlagen, sonst wäre alles im Eimer gewesen. Dem kranken Opa war keine Mühe erspart geblieben. Karl sah wieder hin zu den Fleischmassen auf dem Sofa, wo es jetzt still war. Der Alte dachte an sein Glück, das ihn in Europas dunkelsten Jahren nach oben getrieben hatte. Er dachte an die Kredite und Verbindungen, die mit einem Schlage da waren, und dass sein Kaiser diesen Krieg verloren hatte. Er aber hatte ihn gewonnen. Es war wirklich ernst gewesen, neunzehn. Wer weiß, wo sein Geld geblieben wäre. Man musste in die politischen Richtungen hineinhorchen, riechen, woher der Wind wehte, und der Staat musste das Eigentum schützen, ganz gleich, ob er demokratisch oder autokratisch, liberal oder monarchisch war, ob tugendhaft oder verbrecherisch: an dieser Frage schieden sich die Geister. Alles andere mochte gehen, wie es wollte. Mit der Anna hatte er keinen schlechten Griff getan. Wie die Weiber das bloß machten, Kinderkriegen, die Küche, die Gaststätte, eine ganze Masse Arbeit für eine Pfarrerstochter, die die Bibel gewissermaßen mit in die Ehe gebracht hatte, viel mehr übrigens nicht. Wer nichts erheiratet und nichts ererbt, bleibt ein armes Luder bis er sterbt. Das stimmte nicht immer, wie aus seinem Beispiel zu lernen war.

      Im Ganzen kann man zufrieden sein, dachte der Opa und schloss mit der Bemerkung: „Das Leben ist eine verrückte Sache. Mal geht‘s rauf, mal runter. Man muss höllisch aufpassen.“

      Diesen Grundsatz dauernder Kontrolle setzte er in die Tat um. Der kleine Zeiger der Uhr stand auf drei, und das Geschäft ging bald wieder los. Er erhob sich ächzend, legte die kalt gewordene Zigarre in die Aschenschale und zog die Hose hoch.

      „Wollen mal sehen, was die Weiber machen“, sagte er zu Karl. „Nämlich, wenn man nicht dauernd hinterher ist, geht alles drunter und drüber.“

      Karl nickte. Sie machten dem Opa das Leben schwer. Es ging eben mal rauf und mal runter, wenn man nicht wie ein Schießhund aufpasst. Die Kellner betrogen, und die Weiber arbeiteten nicht genug, kaum dass der Opa einen Augenblick auf dem Sofa liegen konnte. Sie gingen zusammen in die Küche. Von den drei Herdplatten stieg Hitze auf. Sie kochten für späte Mittagsgäste Tante Friedel schlug in einem großen Metallbecher Sahne, die Kaffeezeit rückte heran. Die Kellner rannten mit Tabletts umher und schwitzten nicht weniger als die Frauen. Gertie rechnete Bons ab. Es war etwas umständlich, dieses dauernde Abrechnen, aber es sicherte dem Opa einen besseren Überblick. Die Oma schlief um diese Zeit, weil sie den abendlichen Hochbetrieb bis zur Polizeistunde zu überwachen hatte. Der Opa runzelte die Stirn, immerhin war es schon nach drei Uhr. Heute vermochte er sich darüber nicht aufzuregen. Die Aufzählung seiner Erfolge hatte ihn in eine angenehme Stimmung versetzt.

      „Macht uns mal ein ordentliches Tatar“, befahl er, „und bringt eine Flasche Bordeaux nach hinten.“ Er nahm Karl wieder an der Hand und beide verschwanden aus der Küche.

      „Eine Hitze ist da drin“, sagte er vertraulich zu Karl. „Keine zehn Pferde würden mich da reinkriegen. Ich muss erst mal pinkeln. Geh schon nach hinten. Ich komme gleich nach.“

      Aber Karl wollte unbedingt mitgehen. Er mochte sich jetzt von diesem gemütlichen Opa nicht trennen. Danach teilten sie das einpfündige Tatar und tranken Wein dazu, Karl ein kleines Glas, der Opa den Rest der Flasche. Dann wurde der Alte müde und legte sich wieder auf das große rote Sofa, das zwei Mann nicht schleppen konnten, und schlief ein. Karl rollte sich in das Fell davor.

      Tante Friedel weckte ihren Vater gegen achtzehn Uhr. Sie brachte den Kaffee. Karl wurde von seiner Mutter geholt. Auf dem Nachhauseweg fragte sie ihn aus, aber der schläfrige Sohn antwortete wenig.

      “Was habt ihr denn den ganzen Tag gemacht?“, forschte sie. „Junge, kannst du nicht antworten?"

      Karl hielt mit Mühe die Augen offen.

      „Der Opa hat mir was erzählte.“

      „Was hat er dir denn erzählt?“

      „Ich sag dir's morgen."

      Gertie schwieg überrascht. So stolz sie auf den Sohn war, schlich sich doch etwas wie Angst in ihr Herz. Sie kannte ihren Vater, und sie wusste auch, wie Hermann über ihn dachte. Das konnte nicht lange gut gehen. Eine Veränderung Karls würde Hermann nicht hinnehmen. Sicher würde er dann den Umgang Karls mit dem Opa verbieten. Und das durfte nicht geschehen. Sie hoffte, der Opa würde Karl den Lebensweg ebnen.

      „Ihr müsst doch irgendwas geredet haben?"

      „Ja“, sagte Karl, „mal geht's rauf, mal geht's runter.“

      In ihrer Verblüffung wusste sie nichts zu antworten. Das konnte Karl nur vom Opa haben. Die massige Gestalt ihres Vaters schob sich zwischen sie und ihren Sohn. Davon sollte Herrmann nichts erfahren.

      „Du musst es nicht so nehmen“, sagte sie verlegen, schwieg aber, als sie in sein ernstes Gesicht sah.

      Sie kamen spät nach Hause. Renate und der Vater saßen unter der Leselampe, und bald nach dem Essen ging die Familie schlafen. Karl nahm sofort seinen Platz ein, schnüffelte in Renates Haaren, wärmte sich an ihrem Körper, konnte aber nicht einschlafen. Seine lebhafte Phantasie ließ die Erzählung des Großvaters in bedrückenden Bildern wiedererstehen. Er sah einen kleinen Jungen in Holzpantinen auf einer staubigen, überhitzten Landstraße, erblickte einen weinenden Postboten am Grab einer Frau, ein Haus, dessen First sich unter dem Gewicht einer wirklichen Last bog. Ein mächtiger, riesenhafter Bulle warf einen Mann nieder, Leute mit wilden tückischen Gesichtern zerrten andere auf die Straße, sie schrien - bis alles durch einen donnerähnlichen Krach ausgelöscht wurde. Der erste Schritt aus der Inselstraße vermittelte einen Blick in eine schaurig-bewegte Welt, die sich erheblich von dem Frieden und der Stille der Kochstube unterschied; selbst der allabendliche Lärm in Onkel Hannemanns Kneipe konnte da nicht mithalten.

      Renate schlief mit ruhigen, stillen Atemzügen, ein leiser Hauch kam aus ihrem Mund, sie lachte im Schlaf, suchte sich zu drehen, fand den Bruder an ihrem Hals und blieb geduldig liegen. Mit dem freien Arm umschlang sie seine Schulter, der andere lag unter seinem Kopf. Durch das Fenster fiel Licht auf das groß Bücherregal, das so viele Schätze enthielt, Bilderbücher und das Herbarium, wie der Vater Pflanzen und Blumen bezeichnete, die zwischen den Seiten dicker Bücher trockneten, dann eine große Sternenkarte, in der auf dunkelblauem Grund viele Sternbilder eingezeichnet waren, ein Stück Papierhimmel.

      Und plötzlich hörte Karl Bruchstücke einer geflüsterten Unterhaltung zwischen den Eltern.

      „So“, hörte er den Vater sagen, „der Junge hat den Alten buchstäblich umgekrempelt?“

      Die Mutter bestätigte das. Er, Karl, könne machen was er wolle, der Alte wäre mit allem einverstanden. Sie würden sich nicht genug wundern über diese Entwicklung, aber das habe man ja häufig, dass die Großväter mehr an den Enkeln hingen als an den Söhnen und Töchtern. Wenn sie da so an ihre eigene Kindheit dächte…

      Hier war ohne Zweifel vom Opa die Rede, diesem prächtigen Mann, der, wie man heute erlebt hatte, die Geschicke der „Friedlichen Einkehr“ von dem großen roten Sofa aus lenkt. Der Vater nannte ihn respektlos den Alten, und die Mutter widersprach ihm nicht.

      „Ich glaube, Karl hat ihn gern“, sagte die Mutter. Stille. Auf der Straße rumpelte ein Auto vorbei, sein Lichtschein streifte das Bücherregal.

      „Das