Zwei Jahre vor der Wiener Aufführung des Tannhäuser am Hof-Operntheater (1859) brachte Johann Nestroy[39] am Wiener Carltheater die gleichnamige „Zukunftsposse mit vergangener Musik und gegenwärtigen Gruppierungen in drei Akten“ heraus. Wie dem Untertitel zu entnehmen ist, zielte der Spott Nestroys, der eine professionelle Sängerkarriere durchlaufen hatte, und seines Komponisten Karl Binder auf Wagners ohrenbetäubende Zukunftsmusik und auf seine stimmenverschleissenden Rollen. So verurteilt Landgraf Purzel Tannhäuser wegen seines Aufenthalts im Venusberg dazu, mit dem Wagnermusik schmetternden Männergesang-Verein fortzuziehen:
Bei Zukunftsmusik geht wohl ohne Zweifel
Der festeste Tenor gar bald zum Teufel.
Drum sprech’ ich teils in Milde, teils im Grimme:
Auf Wiedersehen, jedoch nur ohne Stimme!
Und im dritten Akt berichtet der Protagonist in einer Parodie der Romerzählung, wie er zur Strafe den Tamino und den Max in Zukunftskompositionen singen musste:
So ging’s und ging es fort, ich schrie im Übermaß,
Ich sang drauf los, wußt’ selber oft nicht, was.
Und trotzdem hab’ ich doch die Stimme nicht verloren.
Doch ward mir endlich bang für meine Ohren.
Posaunen, Bombardons, Trompeten und Tamtam,
Das reißt das stärkste Trommelfell ja endlich z’samm.
Ganz ernsthaft, jedoch im Kern seiner Aussage durchaus ähnlich wie Nestroy, äusserte sich Ignaz Moscheles[40] über den Tannhäuser:
Man versucht hier Wagners Musik einheimisch zu machen, und der „Tannhäuser“ hält sich schon mehrere Monate auf dem Repertoir, ob aber irgend eine andere Nation als die deutsche die Geduld und Beharrlichkeit haben wird, solche Musik zu singen und anzuhören, steht zu fragen.[41]
Was mit all dem deutlich gemacht werden soll, ist die unselige Art der „Nordländer“, nicht nur die Gesetze der Opernbühne nach eigenem Gutdünken neu erfinden zu wollen, sondern auch die Singstimmen, deren Grenzen von der Physiologie des menschlichen Organismus vorgegeben sind, ohne Rücksicht auf Verluste nach dem Willen von Komponisten zu verbiegen, ganz so, wie Regietheater-Regisseure die italienische Opernliteratur nach eigenem Wohlgefallen umformen wollen.
So wie Hanslick mit seinen Kritiken und sonstigen Texten an Verdi und dem großen Themenkreis der italienischen Oper und Kultur kläglich gescheitert ist, ohne es zu bemerken, und so wie Wagner in höchst ungesunder Weise für Stimmen geschrieben hat, um sein Ego nicht reduzieren zu müssen, so tun die Regietheater-Regisseure Tag für Tag dasselbe, ohne im entferntesten zu begreifen, dass die Gesetze der italienischen Oper ebensowenig wie die das Gesetz der Schwerkraft aufgehoben werden können, ohne dieser Kunstform Schaden zuzufügen.
ERSTE SPIELLEITER
Interpretationskritik ist bei Hanslick nur nebenbei zu finden, Werkkritik dominierte bei ihm wie bei seinen Kollegen. Gelegentlich brachte er die Rede auf eine Inszenierung, wenn beispielsweise Kulissen, Versatzstücke oder Kostüme aus anderen Opern verwendet wurden[42] und nicht zum aufgeführten Stück passten. Weder die Arbeit der Spielleiter noch deren Namen wurden in Kritiken erwähnt, denn die Inszenierungen richteten sich – nach Maßgabe der finanziellen Möglichkeiten der jeweiligen Opernhäuser – ausnahmslos nach den Vorgaben der Autoren und wurden als invariabler Teil des Werks wahrgenommen. Im Falle Verdis sind diese äusserst präzise, da bei ihm die visuelle Komponente bei der Komposition eine wesentliche Rolle spielte. Inszenierungsexzesse wie jene des heutigen Regietheaters gab es zu Hanslicks Zeit nicht einmal ansatzweise. Die Spielleiter setzten die Werke entsprechend den Vorstellungen und Wünschen der – oft noch lebenden und aktiven – Autoren szenisch um und verschlimmbesserten sie nicht mit unerwünschten, selbsterfundenen Zutaten. Francesco Maria Piave beispielsweise, ein erfahrener Librettist, der neben Verdi, für den er zehn Libretti[43] verfasste, mit vielen anderen Komponisten[44] erfolgreich zusammengearbeitet hatte, berufsbedingt ein genauer Kenner der Operndramaturgie und der Mechanismen der Opernbühne war und als Spielleiter zuerst in Venedig am Teatro La Fenice und danach in Mailand am Teatro alla Scala arbeitete, hat im Laufe seiner Tätigkeit kein einziges Mal ein Werk anders als von den Autoren vorgesehen inszeniert.
Das lag weder an der fehlenden Phantasie der damaligen Spielleiter noch daran, dass die damals lebenden Autoren Änderungen oder Hinzufügungen bei ihren Werken keinesfalls toleriert hätten, sondern an zwei weiteren Umständen: Erstens, dass zeitgenössische Autoren und Publikum vergleichbar gebildet und sozialisiert waren und daher das allgemeine Verständnis des Autorenwillens vorausgesetzt werden konnte; zweitens, dass eine Hilfskraft wie ein Spielleiter gar nicht auf die Idee verfallen wäre, ein von den Autoren als fertig erachtetes Stück eigenmächtig zu verändern.
Die von Theaterleuten kolportierte Entstehungsgeschichte des Berufes des Spielleiters erklärt dessen Wesen: Als einmal ein paar Schauspieler auf einer Bühne standen und über eine Szene eines Stücks diskutierten, baten sie einen von ihnen, in den Zuschauerraum hinunterzugehen und zu schauen, ob sie in der Mitte der Bühne ständen. Daraus ergab sich in weiterer Folge der Aufgabenkreis des Spielleiters: die Disposition der Figuren, die Verkehrsregelung von Solisten und Massen sowie die verständliche, allenfalls verdeutlichende szenische Darstellung des Inhalts einer Oper. Der Zuschauer sollte – damals wie heute –, wenn er ein ihm unbekanntes Werk zum ersten Mal auf der Bühne sieht und die gesungene Sprache nicht versteht, aufgrund der vom Autor vorgeschriebenen szenischen Darstellung, d.h. der die Musik und den gesungenen Text ergänzenden visuellen Eindrücke, möglichst der Handlung folgen können. Das ist werkabhängig, denn ein solcher Zuschauer wird Opern wie Carmen oder Otello leichter folgen können als Werken wie Die Frau ohne Schatten oder Parsifal. Wesentlich ist, dass dem Zuschauer die von den Autoren geschaffenen Inhalte vermittelt und plausibel gemacht werden. Das geschieht beim Regietheater deutscher Prägung zumeist nicht.
DER ERSTE BEDEUTENDE REGISSEUR: EIN BÜHNENAUTOR
Zu der Zeit, als William Shakespeare in London als Schauspieler auftrat, gab es den Beruf des Regisseurs nicht einmal als Denkmodell. Die Mitglieder des bewährten und erfolgreichen Schauspielerkollektivs, das unter verschiedenen Namen wie Lord Strange’s Men, ab 1594 als Lord Chamberlain’s Men und später als King’s Men mit Shakespeare als Schauspieler und Autor in Erscheinung trat, agierten in Eigenverantwortung (ein Begriff, der bis heute inhaltlich immer mehr an Bedeutung verloren hat, nicht nur im Theater und in der Oper, sondern im täglichen Leben und im kollektiven Bewusstsein, wenn nämlich vieles an den Staat oder sonstige Institutionen delegiert wird, weil der einzelne sich nicht damit befassen will).
Der Beruf des Regisseurs in der seriösen Form, die wir heute bei manchen Vertretern des Berufs noch gelegentlich erkennen, entstand allmählich ab Mitte des 19. Jahrhunderts. Doch schon lange davor hatte es im Musiktheater Einzelerscheinungen gegeben, die de facto als aufführungs- und werkgestaltende Regisseure auftraten, jedoch kaum als solche wahrgenommen und mit keiner Berufsbezeichnung ausgestattet wurden.
Einer von ihnen, höchstwahrscheinlich der wirkungsmächtigste, war Pietro Antonio Domenico Bonaventura Trapassi (Rom 1698 – Wien 1782), der unter dem Namen Pietro Metastasio[45] in die Musikgeschichte eingegangen ist. Er war nicht nur Dichter und Librettist, sondern auch ausgebildeter Komponist, der neben seinem schriftstellerischen und musikalischen Talent über alle Kenntnisse und Eigenschaften gebot, die ihn dazu befähigten, mit tiefem dramaturgischem Verständnis in mehrfacher Hinsicht gestaltend für die Opernbühne zu arbeiten.
Er verfasste im Laufe seiner langen Karriere – zwischen 1723 und 1771 – siebenundzwanzig Libretti für Opere serie, die im Laufe der Jahrzehnte mangels Urheberrechtsschutz von mehr als 300 Komponisten vertont wurden und als Grundlage für insgesamt über 800 Opern dienten. Dazu kamen zahlreiche Texte für Serenate, Cantate, Canzonette und Oratorien.
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