Hans Günter Hess
Das Tor der sieben Sünden
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Inhaltsverzeichnis
Wie einiges aufflog und was daraus entstand
Die siebente und letzte „Sünde“
Wie alles ausging, was sich von selbst entwickelte oder absichtlich verändert wurde
Wie alles begann
Die Mauer, sie verlief von Ost nach West, war Rest einer ehemaligen Klosterumfriedung und etwa zweihundert Meter lang. Grobe, unbehauene Steine bildeten das Gefüge, dessen verbindender Fugenmörtel schon lange verwittert, jetzt Staub und Erde ein gutes Lager ermöglichte. Zwischen dem üppigen Moos auf den Steinen bildete es einen guten Nährboden für allerlei niederes Gestrüpp, das auch auf beiden Seiten der Mauer zu einem breiten, undurchdringlichen Dickicht empor wucherte.
Das östliche Ende der steinernen Wand lag am Wald. Zig Jahre herangewachsen und gereift, vorwiegend aus Eichen und Buchen bestehend, verwaltet vom Königlichen Oberforstmeister Guy Bresson, ein wallonisches Urgestein. Sein Haus stand allerdings am entgegen gesetzten Ende, etwas abseits der alten Klosterkirche und war einst zum Teil aus den Bruchsteinen der ehemaligen nord-südlichen Einfriedung errichtet worden. Es gehörte zu den ältesten auf der nördlichen Seite und hatte schon vielen Forstmeistern vor ihm als Wohnung und Verwaltungssitz gedient. Die grauen und nur grob behauenen Quader im Gemäuer verliehen ihm einen düsteren, abschreckenden Charakter. Nur der Hirschkopf mit seinem Sechzehnender Geweih deutete darauf hin, dass es sich um ein Forsthaus und kein Spukschloss handelte.
In einer Linie mit der Mauer platzierte sich dort auch die Klosterkirche, das einzige Gebäude, das nach dem großen Brand der Abtei unversehrt blieb. Man hielt es wohl für ein Zeichen Gottes, dass es trotz vieler Jahre der Brache noch nutzbar war. Außer der kleinen Pforte für den Patre gab es zudem zwei andere Türen. Die eine lag auf der nördlichen, also auf der ehemaligen Innenseite des Klosters. Sie führte direkt in den Altarraum und hatte keine Verbindung nach oben, wurde offiziell behauptet. Allerdings befand sich versteckt in der Apsis eine steile Stiege, die hinauf führte. Diese benutzte nur der Messner, wenn er den Blasebalg der Orgel trat oder die einzige Glocke im Turm läutete. Über sie gelangte man aber auch durch eine geheime Tür zur Empore, aber das wussten nur Eingeweihte. Der schmucklose Rang diente dem gemeinen Volk, das über eine Außentreppe durch die südliche Tür das Kircheninnere betreten durfte und von dort genügend Abstand zu denen hatte, die unten vor dem Altar Platz nahmen. Die da saßen verstanden sich als die vermeintlich ehrbaren Bürger der kleinen Ortschaft. Sie hockten jetzt auf den Bänken der Nonnen des ehemaligen Klosters, um zu zeigen, dass sie sich für besonders fromm und frei von jeder Sünde hielten. Jedenfalls sollte das jedermann glauben.
Bis auf die besagte Mauer waren alle anderen steinigen Überreste der Klosterruine dem Errichten neuer Häuser zum Opfer gefallen. Dieses Baumaterial lag quasi vor der Haustür und kostete nichts.
Mit dem Verlegen einer Verkehrs- und Handelsstraße zur nächsten Stadt nahe der Maas, wurden überdies zu gleichen Zeit Abenteurer, Spekulanten und Leute mit geschäftlichen Interessen in das einst abgelegene, verlassene Nest gespült. Die Einen hofften auf große Gewinne, die die beginnende Bauwut versprach, andere suchten die Ruhe der Natur.
Es waren aber auch welche darunter, die einfach ein Stück Land oder eine Arbeit suchten, um ihre Familien zu ernähren; die hatten es am schwersten. Und die, die sich nahmen was sie brauchten, ohne dafür zu zahlen oder auch nur einen Finger krumm zu machen, die gab es auch.
Zu denen gehörten auf der nördlichen Seite der Spekulant und Betrüger Eduard Wiertz und auf der südlichen der Abenteurer, Tagedieb und Taugenichts Sarly, abgeleitet von Saligot, was soviel wie Dreckskerl hieß. Aber das war er im eigentlichen Sinne des Wortes nicht, er war eher ein Saubermann, was seine Körperhygiene anging. Und das kam so:
Als er sich als einer der Ersten im Ort ansiedelte, brauchte er eine Bleibe. Eine alte, halb verfallene Gerberhütte am Bach bot sich dabei als ideale Wohnstätte an. Sie hatte nur einen Raum, in dem es noch immer nach den Gebereiabfällen stank, und einen Dachboden mit einer Luke. Dort richtete er auf Stroh seine Schlafstätte ein. Zwischen Haus und Bach stand ein riesiger Bottich. Das Holz der Spundwände, bereits im oberen Teil verfault, aber unterhalb durch das Regenwasser, das sich knietief angesammelt hatte, war noch ganz intakt. Die brackige Brühe hatte er abgelassen, danach den Boden und die Innenseite von Algen und Schmutz befreit und schließlich frisches klares Bachwasser eingefüllt.
Jeden Morgen, wenn er verschlafen und nackt aus seinem Strohlager kroch, sprang er beherzt in das kalte Nass und wusch sich von oben bis unten ab. Meist kletterte er nach dem Bad wieder hoch zur Luke, setzte sich Beine baumelnd auf den Schwellbalken und ließ sich singend vom Wind oder der Sonne, je nachdem was zur Verfügung stand, trocknen. Sein Gesang hörte sich nicht besonders wohlklingend an, zumal seine Lieder meist obszöne Texte besaßen. Aber er kannte keine anderen und die hätten ihm auch nicht gefallen. Unten, vor der Tür seiner Kate, lag sein Hund Clochard, eine struppige ungepflegte Promenadenmischung aus Drahthaar-Terrier und Wolfshund. Er war Sarlys einziger richtiger Freund und ein Streuner wie er. Wenn sein Herr sang, heulte er zur Begleitung und dann klang es erst recht frivol schaurig. Der jaulende Singsang des ungleichen