Scherenschnitte bei Nacht - Band 2. Stephen Red. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stephen Red
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738024708
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aus dem Wasser. Sie schleppten sich die unzähligen Stufen bis zur Felsenspitze empor. Oben angekommen schnappte sich jeder der Drei sein Handtuch und trocknete sich ab. Sie wollten das Wasser von ihren Körpern loswerden. Es war ein merkwürdiges Gefühl, das sie empfanden. Irgendwie war der See in ihre Körper eingedrungen – genauso fühlte es sich an. Jetzt, wo sie dort oben so standen und auf den See herniederblickten, ging es ihnen etwas besser. Waren sie doch in dem Bewusstsein, dass der See außerhalb ihrer Reichweite war. Sie hielten gebührenden Abstand zur Kante. „Sollten wir den anderen davon erzählen, von dem, was wir gefühlt haben da unten im See? Sollten wir ihnen sagen, dass der See nach Tod stinkt?“ sagte Syria zu Hector und Sanchez. Doch die beiden schüttelten vehement ihre Köpfe. „Nein, Syria, gleiches Recht für alle. Jeder muss seine Mutprobe für sich allein bestehen“, erklärte Hector. Einerseits konnte Syria gut nachvollziehen, wie Hector das meinte, andererseits, war ihr doch sehr mulmig zumute, mit dem Wissen, dass da im See vielleicht etwas nicht stimmte. Aber sie schwieg. Außerdem wollte sie mal hören, was der Nächste, der in den See sprang, zu erzählen hatte.

      Als Nächster machte sich Nick, der bisherige Angsthase, startklar. Estelle blickte von der anderen Seite des Sees völlig ungläubig herüber. „War der, den sie da oben sah, etwa Nick? Ja, er war es tatsächlich. Jetzt wird er doch noch zum Mann“, raunte sie in Gedanken. Gitte war es ganz egal, wer dort oben stand, solange es nicht Adam war. Nun stand er an der Kante – das erste Mal, seit er wiederholte Male zum See gefahren war. Jetzt war es so weit, er würde springen. Was die anderen nicht wussten: Er hatte heimlich geübt, damit er nicht gleich beim ersten Mal patzen würde. So trat Nick bis zur äußersten Spitze vor und sprang. Er schlug einen doppelten Salto mit Schraube und tauchte wie Adam völlig elegant ins Wasser ein. „YEAH“, rief Gitte laut zu ihm herüber. „Wahnsinn, der ist ja gesprungen wie ein junger Gott.“ Ohne es zu wissen, verknallte sich Gitte gerade in Nick. Als Nick wieder auftauchte, roch er einen sehr modrigen Geruch: Es roch wie eine Leiche. Ihm wurde sehr mulmig, zumute. Auch war das Wasser ganz anders, als das, was er sonst von dem See so kannte. Da schoss ihm durch den Kopf: „Der See liegt auf der Lauer, denn er weiß genau, was heute für ein Tag ist. Nein!“ tat er diesen Gedanken gleich als konfusen Stuss ab. Sogleich schwamm er zu der seichten Stelle und schwang sich aus dem Wasser. Wo er da so stand, am Fuß der Felsenwand, betrachtete er das Wasser etwas genauer und entdeckte etwas, das ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Das Wasser wirkte wie flüssige Erde. Und weiter draußen im See konnte er das Mädchen mit den langen schwarzen Haaren im weißen Kleid erkennen. Sie schien zu warten. Niemand der anderen Jungs oder der Mädchen von der anderen Seite des Sees reagierte auf sie. „War er der Einzige, der sie sehen konnte? Wenn ja, warum war das so? Gab es dafür einen Grund? Ist er etwa der Schlüssel zum Geheimnis um diesen See? Bitte nicht!“ flehte er. Denn er wollte um keinen Preis der Welt in die Mitte des Sees schwimmen, um genau das herauszufinden. Aber das musste er ja vielleicht auch nicht, denn schließlich würde Cody heute über den See schwimmen. Mal sehen, was dann passiert.

      Kurz darauf kam Nick wieder oben auf dem Felsen an. Er wischte sich mit dem Handtuch das modrige Wasser von seinem Körper und gesellte sich zu Syria, Hector und Sanchez. „Sagt mal, ihr habt das doch auch gerochen oder nicht?“ Syria schaute ihn etwas ungläubig an und entgegnete ihm nur flüsternd: „Du meinst, dass das Wasser nach Leichen, nach Tod riecht? Ja, das haben wir alle gemerkt. Auch dass der See quasi anwesend war, so, als würde da etwas warten.“ – „Genau“, entgegnete Nick. „Mir war ganz flau im Magen, als ich im Wasser war. Ich wollte nur noch so schnell wie möglich wieder raus aus der dickflüssigen Brühe“, raunte er ihr zu.

      Vier waren nun gesprungen, vier noch übrig. Als Nächster machte sich Pedro klar zum Sprung. Er legte sein Handtuch weg und trat vor. Direkt hinter ihm stand Cody. Er wollte es endlich hinter sich bringen. Und schon sprang Pedro vom Felsen. Wieder mit gekonntem Salto inklusive Schraube. Das wirkte schon sehr elegant, nur das Eintauchen musste er noch üben. Es klatschte laut, als er in die Brühe eintauchte. Da Cody sich ein wenig unwohl fühlte, sprang er sofort hinterher. Heute allerdings nur mit einem ganz normalen Hechtsprung. Keine Schnörkel, keine Extras. Man merkte ihm die Anspannung förmlich an. Als er wenig später den Kopf aus der Brühe streckte, sagte er zu Pedro: „Ist das, Erde?“ Pedro griff mit den Händen mehrfach ins Wasser und nickte ihm dann bestätigend zu. „Lass uns an den Rand schwimmen und dann nix wie raus aus der Suppe.“ Zuerst kroch Cody wieder an Land, dicht gefolgt von Pedro. Beide hielten sich die Nase zu, denn es stank wie verwesendes Fleisch. Doch zu sehen war nichts dergleichen. Die beiden liefen eilig die Stufen zur Spitze des Felsens empor. Jeder griff sich sein Handtuch und entfernte die vermeintliche Erde von seinem Körper. „Puh“, machte Pedro. „Endlich bin ich diesen verdammten Mist los. Mich kriegen keine zehn Pferde mehr in den Tümpel.“ Cody erging es nicht viel anders, allerdings stand bei ihm noch die Mutprobe quer über den See im Raum. Auf der anderen Seite wartete auch Estelle sehnsüchtig auf ihren Helden. Es gab keine Möglichkeit mehr, einen Rückzieher zu machen. Also: Augen zu und durch.

      Dann hatte er die rettende Idee, so dachte er jedenfalls. „Ich beginne mit dem Überqueren, noch bevor die nächsten beiden springen. Sollte da etwas im See auf mich warten, wird es vielleicht abgelenkt sein und ich schaffe es währenddessen auf die andere Seite.“ Ja, der Plan gefiel ihm. Kurz darauf teilte er seine Idee den anderen mit, die noch springen mussten. Adam wollte da nicht drauf eingehen und so sagte er Cody: „Sag mal, man könnte ja meinen, du hast Angst vor dem See. Hast du Angst vor Wasser? Hahaha, es ist gar nicht Nick, der hier der große Angsthase ist – du bist es!“ Cody ärgerten diese Worte maßlos, dennoch schluckte er seine Wut herunter. Er wollte alles nur noch hinter sich bringen. Nun musste alles sehr schnell gehen, denn auch die Letzten beiden wollten dem Spuk schnell ein Ende machen und springen. Und so warfen Tom und Adam ihre Handtücher weg und sprangen fast zeitgleich in den See. Tom wie immer rückwärts, was jedes Mal so knapp war, dass man sich die Augen zuhielt. Und Adam elegant wie ein Fisch, jedoch ohne jegliches Manöver in der Luft. Kurz darauf sprang Cody erneut vom Felsen. Er schlug einen doppelten Salto, landete allerdings etwas unsanft und tat sich am Rücken weh. Nichtsdestotrotz forderten die anderen, dass er über den See schwimmen müsse, und so folgte er ihrem Verlangen. Zug um Zug entfernte er sich vom Felsen. Sein Blick war fest auf die andere Seite des Sees gerichtet. Nach guten 100 Metern fühlte er, wie seine Beine schwerer wurden. Auch die Arme ließen an Kraft merklich nach.

      Nick blickte hernieder zu Adam und Tom. Beide waren gerade im Begriff, an Land zu klettern. Beide husteten, so sehr stank es nach verwesenden Leichen. Kurz darauf kehrten auch sie auf die Spitze des Felsens zurück. Nun beobachteten alle gebannt, wie Cody sich schlug. Nick sah immer noch als Einziger das gruselige Mädchen in der Mitte des Sees. Sie schien zu lächeln. Dann winkte sie ihm zu. Nick verkrampfte sich der Magen bei dem Anblick. Kälte durchzog seinen Leib, sodass er am ganzen Körper eine Gänsehaut verspürte. Unterdessen schwamm Cody immer weiter hinaus. In der Mitte des Sees angekommen, tauchte er kurz unter, kam aber wenig später wieder über die Wasseroberfläche. Er spürte die Gegenwart eines Wesens, konnte es jedoch nicht sehen. Seine Schwimmbewegungen wurden wieder schneller.

      Er wollte nur noch der Situation entrinnen. Als er sich umblickte, erschrak er. DA, DA WAR DAS MÄDCHEN AUS DEM SEE und es zeigte mit dem Finger auf ihn. Laut Nick bedeutete dies, dass sie einen mitnehmen wollte.

      Cody schwamm weiter und gleichzeitig war er neugierig, was als Nächstes passieren würde. Er blickte sich erneut um. Das Mädchen war noch da. Irgendwie tat sie ihm leid, denn sie lebte hier völlig allein in einem großen schwarzen erdigen See, der nach Leichen roch. Doch was konnte er ändern? PLÖTZLICH WAR SIE NEBEN IHM UND BLICKTE IHN MIT IHREN LEEREN AUGENHÖHLEN an. Dann sagte sie: „Du bist in Sicherheit, denn du hast es riskiert, mir zu begegnen. Ich will nur die Ungläubigen haben und die werde ich mir jetzt holen.“ Cody wusste nicht, was das bedeuten sollte und es war ihm auch egal. Er schwamm jetzt, als wäre der Leibhaftige hinter ihm her und erreichte mit letzter Kraft das andere Ufer. Estelle nahm ihn in den Arm und half ihm dabei, sich vom Wasser zu befreien. Sie trocknete ihren Helden ab. Dann legte sie sich wieder an den Strand in die Sonne.

      Oben auf dem Felsen jubelte die Clique. „JUUUUHUUUU, Cody, du bist der Beste!!“ Kaum, dass der Jubel verklungen war, brach die Felsenspitze ab und mit ihr stürzten alle von der Clique in die Fluten des Sees. Mit Ausnahme von Nick. Das Mädchen zog einen nach