Langsam klärt sich das Bild. Erkennen Einzelheiten. In den oberen drei Feldern Christus, wie wir ihn aus der Bibel kennen. Am Kreuz. Mit Erzengeln, Petrus und Paulus. Im Zentrum als Richter mit Mutter Maria, Johannes der Täufer. Von ungezählten Engeln umgeben. In optischer Mitte ein leerer Thron. Ewiges Herrschersymbol, das auf den Endsieg wartet. Drumherum Engel. Links locken sie mit schön klingenden Hörnern die Guten herbei. Rechts jagen sie die Bösen mit gellenden Fanfarenstössen zum Teufel. Rose zuckt mit keiner Wimper.
So wenig wie Sankt Michael. Der Herr des Geschehens. Auftragsgemäss wacht er, dass alles gerecht zugeht. Sein Gesicht drückt Teilnahmslosigkeit aus. Gerechtigkeit darf nicht fühlen. Links die Frommen. Alle schon im Himmel. Man sieht es an ihren friedlichen, angstfrei gelösten Gesichtern. Dann wieder dieser Satan, mit einem Kind auf dem Schoß, dem sogenannten Antichrist. Um ihn die Verdammten. Von mächtigen Flügelwesen mit Speeren ins ewige Feuer gestoßen. Schreckliches Höllenszenario. Die Künstlerfantasie scheint unerschöpflich zu sein.
Wir kennen die Teufelsgestalten Hieronymus Boschs. Aber nur von kleinen Bildern in Büchern. Schauerlich genug. Die hier können es schlimmer. Weil sie uns von der Wand herunter überlebensgroß auf die Pelle rücken. Erschlagen gewissermaßen. Wir sollen Angst haben. Warum muss ich jetzt an Auschwitz denken? Ob Eichmann in der Hölle schmort?
Mein Blick fällt auf zwei Engel, die Sünder in die Flammen zurückstossen. Mit langen Speeren und sehr entschlossenen Gesichtern. „Mich friert bei dir, Erzengel“ fällt mir ein. Gottesdienstbesucher und Kunstinteressierte können die Kirche auch heute nur durch die Tür in der Mosaikwand verlassen. Müssen das drohende Jüngste Gericht über sich zur Kenntnis nehmen. Mit schlechtem Gewissen oder nicht. Als Zwangspassage eben. Damals sollte es Reue und Besserung auslösen.
Heute scheint die Angst vor der Hölle aus dem Repertoire der Christen verschwunden zu sein. Jüngste Gerichte sind nur noch älteste Kunst. Die jüngste Vergangenheit Vergangenheit. Trotzdem ist Endzeitstimmung in den Köpfen ängstlicher Zeitgenossen. Hin und wieder in Leserbriefen als Frage. Auf den Titelseiten dauernd. Drohendes Unheil. Rezepte zur Rettung inklusiv. Steigert die Auflage. Senkt das Niveau. Angst und Spaß gleichzeitig eine Schimäre?
Sehe zwei Angsthasen den Kopf senken und verschwinden. Als drücke sie ein schlechtes Gewissen. Will sie fragen. Weg sind sie.
All das will ich in einem Gedicht formulieren. Hänge schon bei dem Gedanken daran fest. Mich friert … weiß nicht, wie es weiter gehen soll. Oder anfangen. Greife zum Block, fische den Kugelschreiber aus den Tiefen der Hemdentasche. Zögere. Schreibe:
„du hast den Schrein aus Stein ins Artischokenfeld gestellt – Erzengel – Wolken darüber gehäuft und Stille – bevor dich ein größerer Wille – das Jüngste Gericht entfesseln liess – an der Innenwand – dieses Gebirge aus Zuversicht und hunderttausend Splittern Angst – am Übergang zwischen den Welten“
Rose holt mich aus meinem Dichterhimmel. „Lasst uns in die Locanda gehen.“ Küsschen. Frauen sind realistischer als Männer. Unterscheiden, was wirklich ist oder Fantasie. Der gedünstete Lachs in der Locanda jedenfalls schmeckt wie gedünsteter Lachs.
Später am Abend. Das ‚Jüngste Gericht’ will nicht aus meinem Kopf. Ist nicht jeder Tag der jüngste? Finden nicht jeden Tag jüngste Gerichte statt? Millionen sterben. Weil Teufel Engel in die Brennkammern schicken. Nicht umgekehrt wie im Mosaik. Die Bilder von allem sind in unseren Köpfen. Unlösbar eingeprägt wie Steinchen in Zement. Sie sind ein Teil von uns.
AMALFI – Zitronen sind nicht sauer
Meine Rose war schon acht Mal in Amalfi. Mit Söhnlein Christian und Basset Bonny. Immer per Auto. Zwei Mal mit dem kleinen Alfa-Romeo, der auch zwei Mal auf halber Strecke streikte. Aber sie liebte diesen kleinen Flitzer. Das grünschwarze italienische Kabriolet. Bis Reparaturen zu teuer wurden. Nichts hielt sie davon ab, mit dem Kleinen die mehr als zweitausend Kilometer über den Brenner ins sonnige Italien zu juckeln. Einmal Pause in Alpennähe. Der Mercedes später nicht so lustig, aber zuverlässig.
Mir ist eine solche Tortour nicht geheuer. Noch nie so lange gefahren an einem Stück. Die längste Strecke bisher von Düsseldorf nach Arhus in Dänemark. Vielleicht etwas mehr als tausend Kilometer. Mit Pause in Flensburg. Aber Italien kenne ich nicht. Rose erzählt begeistert von Andrea, dem noblen Empfangschef. Salvatore, dem väterlich allzeit bereiten Oberkellner. Und Signora Barbaro, der erzählfreudigen Inhaberin, die vom Rollstuhl aus alles souverän dirigiert.
Alle sind wichtige Personen im Hotel ‚Luna-Convento’, einem ehemaligen Dominikanerkloster aus dem 14. Jahrhundert. Von San Francisco gegründet, steht in den Urkunden. Menschen und antikes Ambiente scheinen meiner Rose genau so viel zu bedeuten wie Sonne, Meer, blauer Himmel und Profiterole. Völlig neue Töne für mich. Bin aufgeheizt und bereit. Lust kommt, im Hotel Luna Convento zu wohnen. Andrea, Salvatore und die Signora Barbaro im Rollstuhl kennenzulernen. Zu genießen alles, von dem Rose schwärmt. Studiere fleißig le lezione italiano.
Von Salerno fünfzig Kilometer Amalfitana. Die schönste Uferstraße der Welt. Behaupten vor allem Nichtitaliener. Für Italiener ist jede hauseigene Uferstraße die schönste. In Portofino. Napoli. Bari. Palermo. Rose fährt unseren Rover sicher und routiniert. Damit ich das Draußen sehen und genießen kann. Und was für ein Draußen.
Links stürzt alles steil bergab. Zwischen Pinienstämmen Steine, Gestrüpp, Steine, Gestrüpp, Steine. Ab und zu ein Fetzen Blau. Meer tief unten noch weit weg. Aber schon blau. Blitzeblankblau. Halten nicht möglich.
Rechts steigt alles bergauf. Zwischen Pinienstämmen Steine, Gestrüpp, Steine, Gestrüpp, Steine. Ab und zu ein Fetzen Blau. Himmel weit weg, wie immer und überall. Von wässerigem Blau. Irritiert von weißen Wolkenfetzen. „Hier eine tolle Bucht.“ Halten nicht möglich. So geht es fast eine halbe Stunde lang. „Ich finde es gar nicht so sensationell“, meckere ich. Rose singt: „warte, warte noch ein Weilchen.“ Dann eine Plattform. Rose steuert darauf zu. Hält an. Steigt schwungvoll aus. Wirft die Wagentür zu, dass es klackt. Ruft: „Komm ChouChou!“
Mache es genauso. Klack. Drehe mich um und schon ist der Vorhang offen. Die Pinien rücken auseinander, machen dem Panorama Platz. In weitem Bogen schwingt der Saum des Kräuselstrandes von Minori nach Maiori.
Entlang des Strandes die weißen, rotbedachten Häuserkuben dieser zwei quasi aneinander geketteten Fischerdörfer. Tief, tief unten blaublaugrün das Meer bis zum halben Horizont. Der sich im Dunst auflöst. Als gäbe es ihn bald nicht mehr.
Dazwischen aber, oben von unseren Fußspitzen bis zur Dorfstraße tief unten ein geschlossenes, grünes Blätterdach. Farbenhersteller Schminke nennt dieses Grün Permanent. So dicht geschlossen sah ich es bisher nirgends. Das Grün der Limonenbäume. Eine unübersehbare Blättermasse konkurriert mit der unübersehbaren Wassermasse. Ausgang unentschieden. Dem Betrachter überlassen. Wir lieben beide. Das Blau und das Grün. Diese Kombination dominiert unser Haus. Seit langem. Gelb darf hin und wieder dabei sein. Hier an den Hängen der Amalfitana gehört Gelb dazu. Weil Mutter Natur und die Bauern es so wollen. Was wären die schönsten Blätter ohne Limonen. Die müssen reifen und am Ende Genießern der ‚Cuccina Italiana’ die Zunge tanzen lassen.
Engmaschige Netze aus dünnen, schwarzen Nylonfäden schützen die reifwachsenden Früchte vor Frass und Kot räuberischer Vögel. Schwarz verdunkelt das Grün, sodass es satter erscheint. Schönster Kontrast zum Sonnengelb der Limonen. Vermittler zum Blau der Unendlichkeit.
Im ‚Luna Convento’ stürmt Rose gleich los. Folge ihr stolpernd. Treppe hinauf ins ‚Dicianove’. Zimmer Nummer neunzehn. Wie später immer. „Das ist mein Zimmer, mia camera!“ Rose glücklich, wieder hier zu sein. Gewölbte Decke. Erhöhtes Bad. In der Badewanne liegend sehe ich aus dem Fenster aufs Meer mit Booten und Seeschwalben. Jeder kann sich vorstellen, dass Rose mich zum Apero im Kreuzgang gewaltsam aus dem Wasser ziehen muss. Es ist so mollig angenehm und entspannend wie