Ich hätte es nicht ertragen, in den Winter zu gehen, ohne sie noch einmal gesehen, gerochen, gefühlt zu haben.
Seither ist fast ein halbes Jahr vergangen.
Nichts scheint mehr zu funktionieren in meinem Berlinleben inzwischen. Dabei war nach der Auszeit alles gut. Ich schien glücklich mit dem mir erschaffenen Leben des Pendelns zwischen Stadt und Land, Berlin und St. Peter-Ording.
Ich schien es zu sein.
Alles Lüge? Alles mir zurechtgebogene Wahrnehmung? Alles aus Angst, zu viel verändern zu müssen in meinem Leben?
Alles Ausreden, vor mir selbst? Ausreden dafür, mein Leben nicht in seiner Gänze leben zu müssen?
Feigling, ich.
Es klang noch so gut, was ich dachte nach meiner Rückkehr. Voller Stolz, Freude und innerer Ruhe habe ich da behauptet, dass ich in der Tat neu geworden wäre. Anders aufgestellt, das innere Team von Interessenbekundern, Schwerpunktsetzern, Pläneschmiedern, Erhobene-Zeigefinger-Winkern, subjektiver Zensoren, Aber’s, Ja’s, Nein’s - als hätten sie eine neue Zusammensetzung und Aufstellung. Die Griesgrämigen und Negativen unter ihnen standen ganz hinten an und hatten nichts mehr zu melden. Die Lustvollen, Positiven unter ihnen standen vorn, und bestimmten den Tag. Ich fühlte mich authentisch, ein absolutes Ich.
Inzwischen ist ein halbes Jahr voller Großstadt und Büroarbeit vergangen. Die Sicherheit und Authentizität, mit der ich zurückgekehrt bin im letzten Jahr, ist verflogen. Ganz langsam, Monat für Monat, hat sich die Unsicherheit eingeschlichen, und hat die Sicherheit verdrängt, die ich in meinem Leben gefunden zu haben schien.
Woran liegt das? Am Ort, am Tun, an beidem? Am jeweiligen Umfeld, am fehlenden Alleinsein?
Wäre ich im Norden immer so - so friedlich, ausgeglichen, authentisch - wenn ich immer dort lebte? Egal was ich dabei tun würde?
Also wieder einmal, oder noch immer, die Frage: liegt das friedliche, authentische Dasein am Tun, oder am Ort? Oder gar am Wechselspiel aus allen Möglichkeiten?
Die Fragen und Gedanken verstopfen mir den Kopf.
Nachdem ich meine Einkäufe in der Küche verstaut habe, ziehe ich die Trainingsklamotten an, schnüre die Laufschuhe, und renne los.
Das habe ich im letzten Jahr gelernt: es hilft, wenn ich mich freirenne. Meinen Kopf leerrenne.
Es ist noch kalt, der Februarwind pfeift mir entgegen. Ich laufe durch kleine Seitenstraßen in Richtung Spree. Am Treptower Hafen liegen ein paar Ausflugsdampfer im Winterschlaf. Die letzten Eisschollen, Reste der Kälte der vergangenen Wochen, treiben auf dem Fluss. Mein Atem wirft neblige Wölkchen vor mir her, die Schuhe knirschen in gleichmäßigem Rhythmus über den sandig-erdigen Uferweg.
Es ist Schwachsinn, was ich da vorhin verkorkst und verknotet gedacht habe. Der Winter hat ganz einfach ein Ungleichgewicht in mein Berlin-Nordsee-Pendlerleben gebracht. Aber der Winter geht gerade zu Ende, und die nächste Auszeit naht. Und was für eine!
Die Umstände sind ganz andere als im vergangenen Jahr. Die Umstände sind eigentlich fantastisch, paradiesisch für mich. Nicht eigentlich. Sie sind es.
Im Herbst nach meiner Auszeit im letzten Jahr habe ich mich mit Frau Martens getroffen, der Besitzerin des liebreizenden Häuschens auf Eiderstedt, in dem ich gelebt hatte. Wir wollten beide voneinander wissen, wie es uns ergangen ist: ihr damit, dass sie ihr Haus für zwei Monate vermietet hatte - mir damit, in ihrem Haus zwei Monate lang gelebt zu haben.
Wir haben uns gegenseitig gespannt zugehört. Jede von uns gibt dem Haus einen eigenen Charakter, belebt und beseelt es anders. Aber jede von uns scheint wiederum vom Haus das Gleiche zu empfangen: Geborgenheit, Nestwärme und fast schon spirituellen Schutz. Als läge ein Segen auf diesem Haus, ein ganz spezieller, ein Segen für uns beide, für Frau Martens und mich.
Frau Martens hat meine Liebe zu ihrem Haus deutlich gespürt. Und sie mag es, wenn Gäste in ihrem Haus sind, die es achten, schätzen, und respektvoll mit ihm umgehen.
Sie dachte über etwas nach, das spürte ich, als wir im Café in Berlin saßen und in unseren Milchkaffees rührten. Dann sprach sie es aus:
„Im nächsten Jahr werde ich hauptsächlich bei meinem Sohn in Dänemark leben, und daher nicht in meinem Haus auf Eiderstedt sein. Ich wäre beruhigt, wenn Sie öfter dort sein könnten. Zum einen ist es dann bewohnt, das ist wichtig für ein Haus, und zum anderen wäre jemand da, der ein bisschen nach dem Rechten sieht. Ich habe zwar Hinrich, Sie kennen ihn ja, der mein Haus während meiner Abwesenheit betreut, aber ich möchte ihm diese Aufgabe nicht ein ganzes Jahr lang zumuten. Zumal es ja auch den Garten gibt, der ein bisschen gepflegt werden muss.“
Es gibt diese Momente im Leben, in denen alles klar ist. In denen zwar der Verstand weiß, dass da gerade eine recht große Entscheidung ansteht, eine Entscheidung, die Zuverlässigkeit und Verantwortungsbereitschaft verlangt. In denen aber zugleich der Bauch so laut, klar und deutlich „Ja“ sagt, dass er damit in einem solchen Moment die Entscheidung schon getroffen hat.
Mir ging es so in diesem Moment: mir war klar, dass dies eine Schicksalsfügung ist, zu der ich nichts anderes als „Ja“ sagen kann. Und als ich das tat, breitete sich auch auf Frau Martens Gesicht ein entspanntes, zufriedenes Lächeln aus, und sie nickte mir zu:
„Nun bin ich beruhigt, die Frage nach der Hausbetreuung während meiner Abwesenheit hat mich lange beschäftigt. Dass ich auf Sie aber nicht schon viel früher gekommen bin, sondern erst gerade jetzt?“
„Manchmal muss man einfach gemeinsam über die Dinge sprechen, die einen beschäftigen oder Sorgen bereiten, dann kommen die Antworten plötzlich, als würden sie vom Himmel fallen“, strahlte ich sie an.
Das ist nun ein halbes Jahr her. Wir haben uns auf für beide stimmige Konditionen geeinigt, Frau Martens und ich, und so bin ich nun so etwas wie eine Hausbetreuerin für ein Jahr. Ich werde es für zwei bis drei Monate im Frühling bewohnen, bis in den Sommeranfang hinein, und im Rest des Jahres kürzere Aufenthalte dort verbringen, sobald ich mich in Berlin ein paar Tage ausklinken werde können. Im Sommer haben sich ein paar Stammgäste eingemietet, solange sieht Hinrich nach dem Haus, und ich verdiene in Berlin mein Geld.
So ist das nun ein auf seine ganz eigene Art und Weise wahrgewordener Traum: ich habe, zumindest in diesem Jahr, eine feste Unterkunft in meinem Lieblingsküstenland.
Ich bin am Wendepunkt meiner Laufstrecke angelangt, der Plattform am Uferweg, deren Geländer sich hervorragend für Dehnübungen eignet. Das Wasser der Spree unter mir kräuselt sich im Wind, ein paar Enten kommen angeschwommen in der Hoffnung, ich sei ein Mensch, der ihnen Futter ins Wasser fallen lässt. „Mäck mäck“ schnattere ich ihnen zurück, es gibt nichts für euch, ihr müsst durchhalten wie ich.
Ich muss einfach noch diese zwei Monate durchhalten in Berlin, dann wird der Frieden wieder einkehren in mich. Und wenn ich mir das bewusst mache, dann tut er das schon jetzt: sich ausbreiten in mir.
Es ist eben, wenn ich zu lange nur in Berlin lebe, als würde meine innere Klarheit aus meinem Nordleben erstickt.
Es ist eben so.
„Mach dir nicht so viele unnötige Gedanken. Alles kommt so, wie es gut für dich ist, und zwar dann, wenn die Zeit reif dafür ist.“
Wer hat das jetzt gesagt? Viktoria, die 450 Kilometer entfernt ist, oder eine Stimme in mir?
Manchmal mag ich das ja gerne glauben, dieses Ding mit der Zeit, die reif ist oder auch noch nicht reif ist für die Erfüllung von Wünschen. Und ein anderes manches Mal macht mich diese mir dann zu esoterisch anmutende Haltung bockig: dann will ich jetzt, sofort, und zwar alles. Nützt aber meist auch nichts.
„Mach dich doch endlich frei von deinen Grübeleien und deinen Ängsten!“
Offensichtlich spricht Viktoria wirklich telepathisch mit mir. Lasse ich mich nun nicht davon irritieren, sondern