Alte Seelen I: Die Macht der Erinnerung. Eva Eichert. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Eva Eichert
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847658207
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an. Bjorn stand breitbeinig da und verlagerte immer wieder sein Gewicht von dem einen aufs andere Bein und federte in den Knien nach. „Was machst du denn da, zum Teufel? Biste wieder abgedriftet?“

      Bjorn antwortete nicht, sondern starrte mit zusammengekniffenen Augen auf die gegenüberliegende Straßenseite.

      Marcus klopfte ihm auf die Schulter. „Hey!“

       Die Klippen kamen immer näher, und das Drachenschiff unter seinen Füßen wurde gefährlich hin und her geworfen. Bjorn hörte sich selber lachen, als verspotte er die Gewalten der See, als plötzlich eine weitere Welle gegen den Bug schlug und ihn beinahe aus dem Gleichgewicht brachte.

      Bjorn blinzelte und blickte sich, sichtlich verwirrt, nach allen Seiten um. „Was zum …“

      „Wieder da?“ Marcus grinste ihn an. „Wehe, da wird kein genialer Songtext draus.“

      Bjorn schüttelte den Kopf. Doch das galt nicht den Worten seines Freundes, sondern er versuchte vielmehr, das Dröhnen der Fluten aus seinem Kopf zu vertreiben.

      „Mann“, murmelte er, „Das war heftig. Ich muss nach Hause und das aufschreiben.“

      *

      Bjorns kleines Ein-Zimmer-Apartment war auf dem besten Weg zu einer Messi-Wohnung. Nicht, dass er zu faul war Ordnung zu schaffen oder tatsächlich nicht in der Lage, irgendetwas wegzuwerfen. Es lag wohl eher daran, dass er mit dem Kopf nur selten wirklich anwesend war, wenn er sich zu Hause aufhielt. Ständig kreisten seine Gedanken um die alten nordischen Völker, die vor Jahrhunderten die raue See befahren hatten. Es hatte mit dem Einsetzen seiner Pubertät begonnen. Die Träume suchten ihn anfangs noch des Nächtens heim und verschwammen wenige Sekunden nach dem Erwachen, so wie es wohlerzogene Schlafbilder nun einmal zu tun pflegten. Doch es dauerte nicht lange, bis sie ihn noch Stunden danach verfolgten. Und nur wenige Monate, bis sie ihn sogar tagsüber einfach mit sich rissen. Weit weg, in eine andere Zeit, in der er Eiszapfen an seinem Bart fühlte und der Wind wie Nadelstiche in seine Haut eindrang. Bjorn fing an Gedichte über seine Tagträume zu schreiben, irgendwann zwangen sich seinen Versen Melodien auf, und schließlich entdeckte er seine Fertigkeiten an der Gitarre. Unterricht hatte er keinen. In einem Buch mit den typischen Lagerfeuerliedern waren auf den letzten Seiten die Grundgriffe aufgezeigt und obwohl er diese beinahe umgehend beherrschte machte ihm anfangs seine rechte Hand Probleme, die sich beim Anschlag der Saiten bewegte, als würde sie einen Geigenbogen führen.

      *

      Während Bjorn seine Einkäufe verstaute und die Sachen für seinen Vater auf dem Küchentisch aufstapelte, war er in Gedanken bereits wieder in weiter Ferne, als er von der Türklingel wieder ins Hier und Jetzt zurückgerissen wurde.

      Unwillig riss er den Hörer von der Sprechanlage.

      „Wer stört?“

      „Ich bin es“, hörte er die etwas schrille Stimme von Mrs. Jones, von der Jugendfürsorge, die ihn in den letzten Jahren begleitet hatte.

      „Sie werde ich wohl nie los“, blaffte er frech und drückte auf den Knopf. Ein leises Surren und das darauffolgende laute Knarzen, als die Haustür, drei Stockwerke unter ihm aus dem maroden Rahmen nach innen gedrückt wurde, verriet ihm, dass sie es diesmal auf Anhieb geschafft hatte, ins Innere zu gelangen. Bjorn öffnete die Wohnungstür und beeilte sich, zumindest einen Teil des Mülls unter der Spüle zu verbergen.

      Als sie oben ankam, klopfte sie zunächst höflich gegen den Türrahmen, bevor sie mit einem angewiderten Gesichtsausdruck eintrat.

      „Wenn Sie wollen, dass hier aufgeräumt ist, sollten Sie sich vielleicht vorher ankündigen“, murmelte Bjorn, ohne sich umzudrehen. Die Begrüßung war in den letzten Jahren zu einer Art Ritual zwischen ihm und seiner Betreuerin geworden, doch als er sich endlich zu ihr umdrehte, erschrak er. Unter ihrer Solariumbräune schimmerte krankhafte Blässe hervor, und verlieh ihr den merkwürdigen Teint aschebedeckter Holzscheite. Den spröden aufgeblähten Mund hatte sie mit rotem Lippenstift weiträumig übermalt, so dass man sich fragte, ob sie heute Morgen im Bad auf einem wackligen Hocker gestanden hatte. Einer der Striche ging weit über ihren Mundwinkel hinaus. Ihr Augen-Makeup war auch nicht viel gekonnter gestaltet und vollendeten das Bild eines betrunkenen Zirkusclowns.

      „Das wäre wohl nicht im Sinne der Sache, oder?“, fragte sie mit einer Stimme, die wie die einer alten Krähe in einer rostigen Gießkanne klang.

      „Wenn Sie Drogen suchen, die sind im Kühlschrank.“ Bjorn holte sich eine Flasche Bier heraus und winkte ihr damit zu. „Auch eins?“

      Sie schüttelte ablehnend mit dem Kopf. „Nicht um diese Uhrzeit.“ Mrs. Jones schwankte leicht. Doch trotz des kränklichen Zustandes schienen ihre Augen hellwach. Mit bohrendem Blick beobachtete sie Bjorn dabei, wie er die Flasche ansetzte.

      „Wie viel trinkst du zur Zeit?“, krächzte sie, während ihr der Speichel aus den Mundwinkeln rann.

      „Wenn Sie da sind … nicht genug“, bemerkte Bjorn und versuchte krampfhaft, seine Augen von ihrem Gesicht loszureißen. Er war gefangen, von jener Abscheulichkeit, die man gezwungen ist, anzustarren, obwohl alles in einem aufschreit, dass man wegsehen sollte.

      „Das ist nicht lustig. Der Anfang des Alkoholismus ist die Regelmäßigkeit, Bjorn, und ich habe dich schon lange nicht mehr mit einer Cola oder etwas anderem gesehen.“

      „Es ist reine Geschmackssache, keine Problembe-wältigung, wenn Sie das damit sagen wollen, Mrs. Jones“, knurrte er und holte einen Karton aus dem Kleiderschrank, um die Lebensmittel für seinen Vater zu verpacken. Als er etwas dichter an ihr vorbeiging stieg ihm ein beißender, süßlicher Geruch in die Nase, der seinen Magen rebellieren ließ.

      “Haben Sie ein neues Parfüm?“, fragte er und versuchte möglichst beiläufig zu klingen.

      “Warum?“

      “Nur so“, murmelte er und begann, die Einkäufe sorgsam in die Kiste zu stellen. „Ehrlich gesagt, Sie sehen heute ziemlich scheiße aus. Ist nicht persönlich gemeint.“

      Mrs. Jones sah ihm eine Weile beim Packen zu, ohne auf seine Bemerkung zu reagieren.

      „Wie geht es ihm?“, versuchte sie schließlich wieder das Gespräch aufzunehmen.

      „Wie immer.“

      „Bjorn“, sie trat etwas näher heran. Der Geruch verstärkte sich wieder, so dass er sich sein Handgelenk unter die Nase halten musste, um nicht einem Brechreiz zu erliegen.

      „Ich wollte noch einmal mit dir über deine Zukunft reden“, sagte sie, leckte sich langsam über die Lippen und hinterließ weißen aufgeschäumten Speichel an ihrer Oberlippe.

      Er verdrehte genervt die Augen und wandte sich zu ihr um, doch bevor er antworten konnte, zuckte er angeekelt zusammen. Wo zuvor noch ihr sonst so blendend weißes Lächeln gewesen war, ragten bräunlichschwarze, schartige Gebilde aus einem zurückgewichenen gelblich schimmernden Zahnfleisch hervor.

      „Ich muss zugeben, dass du wirklich Talent hast“, krächzte sie. Es klackerte leise, als einer ihrer Zähne heraus und auf den Boden fiel. „Aber weißt du, wie wenige Musiker es schaffen?“

      Fuck! Die verwest ja! Bjorn wich vor ihr zur Küchentheke zurück. „Ganz ehrlich, Mrs. Jones, Sie sollten vielleicht einen Arzt aufsuchen“, flüsterte er heiser.

      Mit langsam schlurfenden Schritten folgte sie ihm.

      „Es ist nie falsch, noch einen Ausweichplan zu haben, Bjorn.“ Das Krächzen ihrer Stimme klang immer dumpfer, als ob sie durch eine Pappröhre sprechen würde. „Vor allem in der heutigen Zeit. Es ist nicht mehr so leicht, wie früher. Aber das weißt du ja.“

      “Wenn Sie das sagen“, murmelte er und durchsuchte hastig, hinter seinem Rücken, den Inhalt der Spüle nach seinem Küchenmesser ab.

      “Sie werden dich sowieso kriegen, und dann