Horau drehte sich um und nicht zum ersten Mal schnippte er mit der linken Hand gen Boris Stirn. „Aua! He, was soll das? Lass das!“ Horau wusste genau, dass das Boris nicht mochte. „Jetzt schalt dein Hirn an und hör mir zu!“ „Tu ich doch.“
Seufzend setzte sich Horau wieder neben Boris, wischte seinen Pferdeschwanz nach hinten, strich sich mit der rechten Hand übers Haar, wie er es immer tat. Boris schmunzelte. Und da merkte er, dass er diesen komischen Kauz eigentlich sehr vermisst hatte und es schön war, ihn wieder zu sehen.
„Es interessiert mich, weil ich dein Vorgänger bin. Sagte ich doch.“ „Du willst Stadtmeister gewesen sein? Hätte das nicht jemand merken sollen?“ „Das ist kompliziert und war lange vor deiner Zeit. Aber glaube mir, ich war Stadtmeister von Rupes. Und als solcher verantwortlich für die Energie der Tränen. Diese Verantwortung legst du nie mehr ab. Also kümmere ich mich weiter darum und du wirst es nach mir auch tun. Das wirst du nicht mehr los. Musst dich mit einem Dummkopf von Nachfolger herumplagen.“ dabei grinste Horau, war ja ironisch gemeint. „Also nochmals: Wie geht es dir?“
Seit seinem Ausruf zum Stadtmeister hatten ihn viele dasselbe gefragt. Nur hatte er bei keinem einen wirklichen Gesprächspartner für dieses Thema gefunden. Er war alleine, alleine Beschützer der Rupianer. Da war keiner mehr, der IHN beschützen konnte. Zylin, wäre eventuell so jemand gewesen, doch der war ja tot. Darum tat es eigentlich gut, sehr gut sogar, die Frage endlich mit jemandem bereden zu können, der verstand, worum es ging. Selbst wenn es ein Toter, oder so, war.
„Ganz ehrlich?“ „Logisch, was denn sonst!“ „Jetzt wo du da bist: Besser. Fühle mich nicht mehr so alleine.“ Horau lehnte sich zurück, stützte sich auf seine Arme. „Hättest halt früher schon herkommen sollen. Hatte ich es dir nicht immer wieder geraten? Mach doch mal ne Reise?“ „Wie kommst du darauf? Was hat das jetzt damit zu tun?“ „Du hast es gedacht. Sah ich deinem Gesicht an: ‚Schade, dass ich die Gegend nicht ohne dieses Licht sehen kann.’ Das hast du gedacht.“ Boris seufzte „Ja, irgendwie schon.“ „Und jetzt sag’s schon!“ „Was?“ „Na, dass du froh bist, dass ich hier bin.“
Lachen, Boris musste lachen. Tat das gut, wieder einmal zu lachen.
„Alles in Ordnung?“ unterbrach ihn eine besorgte Männerstimme. Eine Wache, die ein Auge auf Boris hatte, hatte seinen Lachanfall gehört. Boris drehte sich um ‚Upps! Den hatte er völlig vergessen.‘ Schnell winkte Boris ab „Alle gut, danke.“ die Wache nickte und ging wieder weg, wenn auch etwas unsicher, aber er ging zurück auf seinen Posten.
„Ja, es ist schön, dass du da bist.“ bestätigte Boris Horaus Wunsch, kicherte weiter „Wirklich“ „Siehst du.“ grinste Horau weiter. „Dann schiess los.“ „Hein?“ „Mit deinen Fragen. Ich weiss doch, dass du es nicht magst, wenn man deine Gedanken liest.“ „Und woher?“ Horau zwinkerte „Ich konnte es lesen und Zylin hat es mir gesagt.“ „Hein? Das musst du mir erklären.“ „Nein, nein. Ein ander Mal. Jetzt deine Fragen. Hopp!“
Eines der wirklich praktischen Dinge als Stadtmeister war, dass er immer warm hatte. So spielte die nächtliche Herbstkälte absolut keine Rolle und Boris legte sich mit dem Rücken auf den kalten, nassen Boden und fror trotzdem nicht. Er schloss die Augen. Spürte die Kälte unter ihm, den feinen bodennahen Hauch des Wassers, der über die Gräser strömte.
„Also gut. Wie du willst.“ „Ich höre. Und bevor ich es vergesse: Du hast nur 3 Fragen zur Verfügung, also wähle weise.“ Boris öffnete die Augen, blickte in Horaus verschmitztes Gesicht „Echt jetzt? Ernsthaft?“ „Nein, natürlich nicht. Aber klingt gut, oder?“
„Idiot“ schmunzelte Boris und stellte seine erste Frage „Ich bekomme das mit dem ‚Sehen’ nicht in den Griff. Alles blendet. Dinge zu unterscheiden ist mühsam, alles mehr eine wage Suppe. Ich versuche ständig irgendein klares Bild zu kriegen. Ich benehme mich so ungeschickt, dass mich ein Freund sogar für blind hielt und er hat Recht, irgendwie. Kannst du das nicht wie damals, etwas zurückfahren?“ „Wenn du die Augen schliesst und dich auf die weiter entfernten Dinge konzentrierst, ist es da klarer?“ „Ja, ja. Schon. Das funktioniert täglich besser, je mehr unterschiedliche ‚Dinge’ und Menschen und Energien ich antreffe, desto besser kann ich sie auf Distanz unterscheiden und fühlen.“ „Dann bist du halt doch ein Dummkopf. Ein aquawaldischer Holzkopf, sozusagen.“ „Witzig“ antwortete Boris sarkastisch „Könntest du bitte wenigstens einmal etwas NICHT auf die leichte Schulter nehmen?“ „Wenn es stimmt? Hihi...“
„Ah! Dann wie du meinst: Und wieso bin ich ein Dummkopf?“ gab Boris nach und ging auf Horaus Antwort ein.
„Weil du dich an dein altes ‚ICH’ klammerst.“ „Wie?“ „Du versuchst die Dinge zu sehen, wie du es bisher kanntest. Das Neue, Unbekannte, das Spüren auf Distanz ist neu, das anerkennst du als ‚neu’, da versuchst du nicht es zu tun ‚wie vorher’. Du kanntest es nicht. Aber das ‚Sehen’, gab es schon. Du musst dein altes ‚ICH’ loslassen. Du wirst nie wieder so sehen wie vorher. Das ist, als ob du plötzlich die Augen z.B. eines Insektes hättest, mit diesen tausenden von Facettenaugen oder wie das heisst.“ Horau zwirbelte mit beiden Händen vor seinen Augen herum um seinen Worten mehr Ausdruck zu verleihen. „Verstehst du?“
Das war eine erschreckende Nachricht. Nie wieder Jorets Gesicht sehen?! Oder das irgendeines anderen Menschen?! Die Augen sind der Blick in die Seele eines Menschen. Dort erkennt man Gefühle und Stimmungen! Es lief Boris kalt den Rücken hinunter. Entsetzt blickte er in den Himmel. Musste er weinen?
„Das kann unmöglich sein! Dann bin ich letztendlich doch blind?! Oh nein! Wie soll ich...“ und erneut schnippte ihm Horau gegen die Stirn „He! Aua!“ Boris setzte sich auf und wischte Horaus Hand weg „Mir ist nicht zum Spassen zumute!“
„Ich spasse keineswegs.“ ernst sah ihn Horau an, er fing an mit seinen Fingern zu zählen
„Erstens: Selbst ein Blinder erkennt oder besser spürt die Gemütsverfassung seines Gegenübers. Man kann es sogar an der Stimme erkennen. Am Geruch, an seiner Körpertemperatur! Und an was weiss ich noch alles. Dafür brauchst du kein Gesicht!
Zweitens: Du bist der Stadtmeister. Keiner erkennt den Zustand eines Menschen, sogar eines jeden Dings besser als du. Konkret bist du überhaupt der Einzige, der das kann. Mit einem Blick, quasi!
Drittens: Bist du dumm? Hast du dir deine Umgebung eigentlich schon einmal genau angesehen, als Stadtmeister, meine ich? Du bist umgeben von wunderschönem Licht in unterschiedlichen Farben und Nuancen! Du kannst hineinsehen und es blendet dich nicht. Dass es dich blendet, meinst du nur. Was ist wertvoller zu sehen: Die Kleidung einer Person oder deren Inneres: Wie es ihr geht? Ob sie lügt? Verletzungen hat? Hein?
Viertens: Kuck dir mal den Boden unter deinen Füssen an! Du kannst sehen wo der Weg entlangführt, wo jemand durchlief, wo es sicher ist und wo der Boden unter dir einsinken oder abbrechen wird. Also wenn du das ‚blind’ nennst, mein lieber Mann, dann weiss ich auch nicht.“
„Was sollte dann das mit den Füssen?“ „Na weil den Boden so zu sehen etwas ‚Neues’ war, wo du hättest von alleine erkennen sollen, was du eigentlich ‚Neues’ siehst ohne dich an dein ‚altes’ Sehen zu klammern.“ Horau hob die Schultern „Hat nicht funktioniert. Pech gehabt. Nächste