Als ich Willem zum ersten Mal traf, wehte ein kräftiger Wind, welcher der Regenwand vorausging, über die wie Terrassen angelegten Reisplantagen, die sich entlang der Hänge erhoben. Willems Familie, eine gut situierte Kaufmannsfamilie, der mehrere Plantagen in der Nähe des Dorfes Bogor gehörten, bewohnte ein ansehnliches Haus am Ende der Straße, die letztendlich in das Bergland mündete. Dämmerung kroch über die Bergspitzen, legte sich über das Tal wie ein feines Tuch, das alles unter sich begräbt. Die menschenleeren, windgepeitschten Reisfelder erweckten Trauer in mir und stimmten mich nachdenklich. Gleichzeitig erfüllten sie mich aber auch mit Neugier auf die Dinge, die da kommen würden.
Ein Dienstbote führte mich in das Haus, dessen Vorderseite von einer großen Veranda gesäumt wurde. Mein Blick glitt über die Gemälde an den hölzernen Wänden; Grachten und Segelboote, Fahrräder und Menschen, die sich im Licht eines lauen Sommertages badeten. Es waren Motive aus den Niederlanden, Willems Heimat. Als ich eintrat war Willem über einer Partitur vertieft. Er saß an einem Klavier, einem Instrument, das ich nur aus Beschreibungen und von Fotografien her kannte, die man mir gezeigt hatte. Für einen Moment lang herrschte Stille, dann stand er auf und bedeutete mir näherzutreten. Der Blick seiner hellblauen Augen traf in das Dunkel der meinen. Wir waren uns auf Anhieb sympathisch. Willems Familie nutzte ihren Wohlstand, um das zu erforschen, was sie die ‚javanische Kultur‘ nannten. Auch in Europa, so hieß es, würde man sich in zunehmendem Maße für die Erlesenheit der javanischen Kunst und ihrer alten Traditionen und Bräuche interessieren, Forschungen betreiben und Aufzeichnungen anfertigen. Aus diesem Grunde war ich von Willems Vater, einem einflussreichen Mann, der im javanischen Adel viele Kontakte pflegte, in das Anwesen bestellt worden, um Willem bei seinen Forschungen zu unterstützen. Willem wollte die javanische Musiktradition kennenlernen und verstehen, in ihre Geheimnisse vorstoßen und ihr Innerstes ergründen.
Obwohl einige priyayi, wie der Adel Javas genannt wurde, der Neugier der Europäer ablehnend gegenüberstanden, wurde der Umstand, dass man sich für die Hofkünste in zunehmendem Maße interessierte, mit Wohlwollen aufgenommen. Als Absolvent eines Zweiges des ‚Het Instituut voor de Javaansch Taal the Soerakarta‘, einem Sprachinstitut, das vornehmlich dem Zweck diente, niederländische Beamte in der javanischen Sprache auszubilden, erschien ich dem Adel als geeignet, dem Willen der einflussreichen Kaufmannsfamilie nachzukommen. Ich sprach ein fließendes Niederländisch, außerdem Deutsch und Englisch, und hatte durch den Kontakt zu meinen europäischen Lehrern die Denkweise und Kultur der Niederlande kennengelernt. Aber am ausschlaggebendsten war vielleicht mein Interesse für die wissenschaftliche Tradition Europas, die analytische Vorgehensweise, mit der die Fremden, die in unser Land gekommen waren, die Welt zu erklären versuchten. Dieses Denken war gegenüber dem der Javaner absolut andersartig, faszinierte mich aber im selben Maße wie die europäischen Einwanderer selbst.
Als Willem mich anblickte, erweckten seine ebenmäßigen Züge und die spitzzulaufende Nase Erinnerungen in mir. Im wayang kulit, dem traditionellen Schattenspiel, das seit Jahrhunderten mit flachen, ledernen Puppen vom dalang, dem Puppenspieler, geführt wurde, besaßen all jene Figuren ebenmäßige, glatte Gesichtszüge und spitze Nasen, deren Wesen von edler und reiner Gesinnung erfüllt war. In Willems Augen blitzte die Neugier auf, und für einen Moment spürte ich die Unsicherheit in mir keimen, die Angst davor, die Fragen dieses wissbegierigen Mannes nicht beantworten zu können und dadurch mein Gesicht zu verlieren. Doch im nächsten Moment empfing mich dieses warme Lächeln, das Verständnis und Güte offenbarte. Es war eine Frage, mit der Willem mich begrüßte.
„Die große Erhabenheit der abendländischen Kunstmusik ist es, dass sie notiert ist. Werk und Aufführung existieren dadurch in zwei voneinander getrennten Sphären. Das Werk ist die Notation, ist durch sie bewahrt und damit in gewissem Sinne ewig. Warum habe ich nie Notationen des Gamelan gesehen, die aus der Zeit vor der Ankunft europäischer Forscher datieren?“
Kaum waren Willems Worte verklungen, deutete er mit einer Handbewegung auf den Sessel ihm gegenüber. Schweigend blickte ich den Sessel an und setzte mich, strich mit meinen Fingern über den glatten Stoff meines Sarong, der mit roten und goldenen Batik-Mustern versehen war. Da Willem nicht den Eindruck machte, er verlange eine sofortige Antwort, ließ ich mir etwas Zeit, über den seltsamen Gesprächseinstieg, den mein Gegenüber gewählt hatte, nachzudenken. Meine Herkunft als Hofmusiker am Kraton hatte mir einen tiefen Einblick in die Tradition des Gamelan verschafft. Aber mehr noch, hatte ich durch die wissenschaftliche Denkweise, die meine Lehrer mir nähergebracht hatten, einen neuartigen Blickwinkel auf das Gamelan, Javas erhabene Musiktradition, erlangt. Doch auch mir stellten sich Fragen, mehr noch, je länger ich darüber nachdachte, weshalb meine Vorfahren eben diese Art der Musik hervorgebracht hatten und keine andere. War unsere Kultur nur dazu fähig, eine Musik hervorzubringen, die ihrer angemessen war? Während meine Gedanken wanderten, dachte ich an die vielen Gongspiele und Klangschalen, die es in einem Gamelan gab, an die ritualisierten Bewegungen der Hofmusiker, die niemals für sich selbst, sondern für die strikt festgelegten Anlässe am Kraton ihre Instrumente bespielten und damit das alte Java lebendig machten.
Ich senkte leicht den Kopf und blickte Willem nicht direkt an, als ich ihm antwortete. Anders als das aufgebrachte Feuer der Neugier, das in Willems Stimme mitschwang, blieb die meine wie immer ruhig und gezügelt.
„Jedes Gamelan-Stück dient einem festgelegten Zweck. Es existiert in diesem Sinne nur während seiner Aufführung.“
Willem lächelte. Die Kürze meiner Antwort stimmte ihn nicht missmutig, sondern schien seine Freude an der heranwachsenden Diskussion entfacht zu haben.
„Wie bleiben die Stücke im Repertoire der Hofmusiker?“
„Sie werden von Generation zu Generation weitergegeben. Mein Vater, selbst Hofmusiker, hat mich bereits als Kind in das Gamelan eingewiesen. Ich habe seine Essenz verinnerlicht.“
Willem lehnte sich zurück. Ein Diener kam herein und servierte Tee auf einem Tablett. Ich dankte nickend und nahm mir eine der kunstvollen Porzellantassen, nach dem mich Willem mit einem Wink dazu aufgefordert hatte. Willem nahm die andere Tasse, rührte den Tee aber nicht an, ganz in unsere Diskussion vertieft.
„Ich hatte die Möglichkeit, den Festkalender des Kraton von Soerakarta zu sehen. Was du sagst, ergibt Sinn. Das Gamelan scheint mir enorm fest in den höfischen Aufführungsrahmen eingebettet zu sein“, führte Willem weiter aus und wechselte mit seiner Anrede auf eine persönliche Ebene. Obwohl ich mir der Einfachheit der niederländischen Sprache in dieser Hinsicht bewusst war, war ich froh, dass Willem den ersten Schritt gemacht hatte. Das Javanische verfügte, anders als die europäischen Sprachen, die ich bisher kennengelernt hatte, über zahllose Höflichkeitsebenen, die ein Gespür für die gesellschaftliche und soziale Stellung des Gesprächspartners erforderlich machten. Besonders in Bezug auf Ausländer war es nicht immer ganz einfach, die richtige Anrede und Höflichkeitsebene zu finden. Ich war deshalb innerlich froh darüber, dass wir uns nicht des Javanischen bedienten und dass Willem allem Anschein nach keinen besonderen Wert auf die sprachliche Etikette legte.
„Das Gamelan wird niemals um seiner selbst willen gespielt. Es erfüllt den Zweck, die höfischen Traditionen zu erhalten und das Weltbild des Kraton zu stützen.“
Willem schien diese Aussage zu faszinieren. Seine Hand glitt über seinen gestutzten Bart, während er – in Gedanken versunken – nach seiner Teetasse griff, zu trinken ansetzte, sie dann aber wieder auf das Tablett stellte, als ihm ein neuer Gedanke gekommen war. Die Emotionalität, die Begeisterung, die Willem und andere Europäer in ihre Gespräche einfließen ließen, erstaunte mich ein jedes Mal von neuem.
„Demnach ist es eine logische Schlussfolgerung, dass sich im Gamelan keine Solomusiker herausgebildet haben, keine bevorzugten Instrumente“, eröffnete Willem einen neuen Diskussionsstrang, den ich, noch immer ruhig und entspannt dasitzend, annahm und weiterflocht. Ich konnte nicht leugnen, dass Willem das Gamelan bereits ausführlich betrachtet hatte, und tief in meinem Inneren erwuchs in mir die Hoffnung, Willem könnte gleichfalls mir helfen, meine eigenen Fragen zu beantworten, die allgegenwärtige Form zu ergründen, deren Umrisse ich gerade erst zu erahnen begonnen hatte.
„Du hast Recht. Jeder einzelne Musiker trägt seinen Teil zur Gesamtheit hinzu. Das Gamelan verfügt