Ohne nachhaltige, harte und bescheidene Arbeit ist keine erfolgreiche und ökologisch vertretbare Ökonomie möglich. Ohne Augenmaß, menschliche Zuwendung, Ehrlichkeit, gesellschaftliche Verantwortung und Solidarität kann es keine glaubwürdige Politik geben. Das erkennen immer mehr Menschen. Sie sind nicht mehr mit den üblichen Sonntagsreden ruhig zu stellen. Sie verlangen vom Führungspersonal der Republik ein Umdenken und ein dementsprechendes Handeln. Sie tun es lautstark, und das ist ihr gutes Recht.
Rechtsstaat in Verruf
Deutschland ist eine repräsentative parlamentarische Demokratie, und dieses System hat uns nicht nur politische Stabilität beschert, sondern auch Jahrzehnte des Friedens und des relativen Wohlstandes. Niemand sollte es daher leichtfertig aufs Spiel setzen und bei kritischer Betrachtung das Kind mit dem Bad ausschütten. Aber irgend etwas ist faul im Staate. Wie ein Computer, der immer langsamer und träger wird, scheint er dringend ein Update zu brauchen, etwa durch Ergänzung der repräsentativen mit Elementen der direkten Demokratie. Die Akteure hatten zu viel Zeit, um sich das System anzupassen, statt sich den Forderungen der Verfassung wirklich zu stellen. Das spüren immer mehr Menschen im Land und reagieren mit außerparlamentarischer Opposition, Wahlenthaltung oder „Denkzettel-Wahlen“. Angesichts dieser Tatsachen ist es zumindest fahrlässig, den Zorn der kleinen Leute etwa auf die Urheber der Finanzkrise sowie die hilflosen politischen Reaktionen darauf „albern“ zu nennen (wie Bundespräsident Joachim Gauck).
Hans-Ulrich Jörges schrieb am 23.10 2014 im STERN, Deutschland sei inzwischen eine „Diktatur der Minderheiten“ und nennt die Suche nach einem Nachfolger für den Berliner OB durch die SPD den „bislang schamlosesten Zugriff einer Partei auf ein Spitzenamt im Staat – unter Ausschaltung des Volkes und seiner Vertreter. Und die krasseste Verletzung des Mehrheitsprinzips der Demkokratie“. Darüber hinaus konstatiert der Journalist sein Erstaunen über die Gewöhnung der Leute an solche Zustände: kein Sturm der Entrüstung, nirgends. Rein rechnerisch ist die Entwicklung deshalb so dramatisch, weil sinkende Wahlbeteiligung das Gewicht der wählenden Minderheiten extrem steigert. Jörges rechnet einmal genau nach, für wie viele Wähler in Deutschland welche Regierung wirklich steht, und kommt auf folgende Zahlen: „Rot-Rot in Brandenburg für 23,8 Prozent, Rot-Rot-Grün in Thüringen für 24 und Schwarz-Rot in Sachsen für 25,1 Prozent der Wahlberechtigten. Selbst die Große Koalition im Bund, die vier Fünftel der Parlamentssitze erobert hat, kam nur auf gut 47 Prozent der Wahlberechtigten. Denn die Beteiligung ist auf 71,5 Prozent abgesackt.“
Darin steckt ein gewaltiges Legitimationsproblem. Ursache sei, so hört man immer wieder, dass nur sechs Prozent der Deutschen der Meinung sind, sie hätten durch Wahlen einen starken Einfluss auf die Politik. Zwei Drittel der Menschen glauben aber, auf die Interessen des Volkes werde kaum noch Rücksicht genommen. Beispiele dafür sind kaum zu übersehen. Artikel 20 Absatz 2 des deutschen Grundgesetzes lautet: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt“. Man sollte meinen, das sei eindeutig. Trotzdem – oder gerade deswegen – hüten sich deutsche Politiker inzwischen vor dem Volk. Vor allem die direkte Demokratie mögen sie nicht.
Misstrauen gegenüber dem Volk
Obwohl es das Grundgesetz verlangt, wurde das Volk nicht zur Wiedervereinigung Deutschlands befragt, zur Einführung des Euro oder zur Aufnahme Griechenlands in die EU. Erst recht nicht durfte es über die EURO-Rettungsschirme abstimmen. Es gab in mehreren Ländern Volksabstimmungen über die neuen EU-Verträge – nicht in Deutschland. „Gute Gründe“ warnten unsere Politiker immer wieder. Sie misstrauen dem Volk und befürchten eine „Politik nach Stimmungen“, obwohl sie selbst in jedem Wahlkampf auf das Bauchgefühl der Wähler zielen. Sie fürchten sich zu Recht. Sonst hätte sich nämlich möglicherweise die Wiedervereinigung vertraglich etwas anders gestaltet. Vielleicht hätten sich die schweren sozialen Verwerfungen durch die ignoranz- und ideologiegesteuerte „Arbeit“ der Treuhandgesellschaft zum großen Teil vermeiden lassen, hätte man den Zusammenbruch der gesamten Ostblockwirtschaft verhindern können, die ja nicht auf Devisen, sondern auf einem sehr effizienten Tauschhandel beruhte. Vielleicht gäbe es heute „blühende Landschaften“, wo stattdessen auf Generationen hinaus Plattenbau-Ruinen, Depression und Verwahrlosung nur noch Kulissen für die Endzeitstimmung bestimmter Krimis und Science-Fiction-Filme abgeben.
Vielleicht hätte das befragte Volk der Einführung des Euro nicht zugestimmt, der anders als die dauerhaft starke D-Mark anfällig für politische Manipulationen ist. Vielleicht hätte man die Finanzwirtschaft wirklich an die Leine gelegt, nachdem sie die Finanzkrise verursacht hatte, statt im Wahn eines neuen Nationalismus die Griechen für alle Probleme haftbar zu machen und den Leuten vorzugaukeln, die Banken seien „systemrelevant“, also sei es lebensnotwendig, sie zu retten, indem man dem schlechten Geld ohne Limit gutes Geld hinterherwirft.
Man gewöhnt sich verdammt schnell an Kalauer wie „Die Demokratie ist das zweitbeste aller möglichen politischen Systeme, aber nach dem besten wird noch gesucht“. Das ist gefährlich. Die politische Klasse, d. h. Regierungen, Parteien, Beamte, auch Justiz und Exekutive (Polizei) nebst einer oft ziemlich selbstgefälligen „vierten Macht“, der etablierten, profitorientierten Massenpresse, hat sich in dieser wohlfeilen kabarettistischen Unvollkommenheit mit Pensionsanspruch bequem eingerichtet. Allzu bequem, fürchte ich. Denn mit jedem Gesetz, das Debatten umgeht und bewusste Entscheidungswege des kritischen Denkens und der Kontrolle von Seiten des Parlaments und der Öffentlichkeit durch einen bürokratischen Automatismus ersetzt, wachsen die Denkfaulheit und die Anfälligkeit für moralische Korrosionsprozesse. Das destabilisiert die repräsentative Demokratie wie Rost eine Stahlbrücke. Ein unbestrittenes Beispiel dafür ist die regelmäßige Erhöhung der Abgeordnetenbezüge im Selbstbedienungsverfahren – unabhängig von der Einkommensentwicklung beim Steuerzahler. Obwohl er der eigentliche Souverän ist, wird er in dieser Frage nicht nur nicht gefragt, sondern gezielt umgangen. Ähnlich steht es um die Parteienfinanzierung oder die Transparenz bei Nebentätigkeiten von Politikern oder gar deren wirksame Einschränkung. Schließlich soll Politik ihr Fulltime-Job sein, für den sie gewählt wurden.
Bevor die alte Tante Demokratie durchrostet, weil Stammtischparolen oder irgendwelche Rechtspopulisten als Ausweg in höchster Not auch bei uns wieder salonfähig werden, schlage ich vor, an einige Eckpfeiler unseres demokratischen Rechtsstaates zu erinnern. Es gibt Werte, die über allen aktuellen Diskussionen stehen und auch nicht von Mehrheitsentscheidungen abhängig sein dürfen, wenn unser Staat eine Demokratie und ein Rechtsstaat bleiben soll: Die Grundrechte, aber auch die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz.
Wenn unser Grundgesetz vom „Rechtsstaat“ spricht, meint es auch das Ziel, Gerechtigkeit gegen jedermann zu üben. Alles andere ist zynisch. Recht und Gesetz ohne Gerechtigkeit kann es nicht geben, weil sie sonst beliebig wären wie Moden oder flüchtige Konstellationen der Macht. Kaum weniger gefährlich für den Rechtsstaat als irgendwelche Neonazis oder religiösen Fanatiker sind beamtete Juristen auf Lebenszeit, die allen Ernstes davor warnen, mit der Justiz Gerechtigkeit auch nur anzustreben, weil „so ein schwammiger Begriff“