„Was zum Sanktrum?“ brüllte der Fremde und sprang mit zwei Sätzen zum Vorhang. Er riss die schweren Leinen zur Seite, packte Sanara sofort am Kragen ihrer Bluse und schleuderte sie zu Boden. Brehm starrte völlig verdutzt auf Sanara, die hart auf den Steinquadern aufschlug. Der Rosendiener ging einen Schritt auf sie zu und trat ihr heftig in die Magengrube. Sanara wurde von alledem dermaßen überrascht, dass sie gar nicht auf den Gedanken kam, ihren Willen wirken zu lassen, ihre Magie einzusetzen. Der rasende Schmerz der sich in ihrem Magen derart ausbreitete, dass ihr schlecht wurde, tat sein Übriges.
***
Vitras und Mai saßen schon eine Weile an dem üppig gedeckten Tisch. Ein Diener füllte ihre Becher mit kühlen Wein als der Kriegszauberer anfing sich über Sanaras Verbleib zu wundern.
„Sie wird sicherlich jeden Moment erscheinen,“ versuchte Mai ihn zu beruhigen, erkannte jedoch an seinen Gesichtszügen, dass er zunehmend unruhiger wurde. Sofort erhob sie sich von ihrem Stuhl und lächelte ihn an:
„Ich werde eben nachsehen, wo sie solange bleibt! Versucht derweil den Wein zu genießen. Wir werden gleich bei euch sein.“
Vitras nickte ihr dankbar zu, und Mai verließ scheinbar unbekümmert den Raum. Sie wollte Vitras nicht zusätzlich in Aufregung versetzen. Denn eines hatte sie bei Sanara früh erkannt. Man konnte sich voll und ganz auf sie verlassen. Diese Unpünktlichkeit passte nicht zu ihr. Als sie hörte, dass der Diener die Tür hinter ihr wieder geschlossen hatte, sprintete sie los. Dabei schubste sie mehrere Bedienstete zur Seite, während sie den langen Flur, der zur großen Haupttreppe führte, entlang rannte. An der Treppe angekommen, nahm sie mit jedem Schritt mehrere Stufen auf einmal. Als sie das richtige Stockwerk erreichte, bog sie links ab und rannte weiter in Richtung Vitras' Gemächern. Als die Tür zu sehen war flog sie schon Kraft Mais Willen auf. Die Gemächer waren noch stockdunkel. Niemand hatte die Fackeln in ihren Wandhalterungen oder auch nur eine der vielen Kerzen entzündet. Mai konzentrierte sich für den Bruchteil einer Sekunde, wobei sich sämtliche Fackeln entzündeten und die Räumlichkeiten in ein warmes Licht tauchten. Sanara war überhaupt nicht hier gewesen. Plötzlich hörte sie einen Schrei und erkannte die Stimme ihres Schützlings. Mai betrat wieder den Flur und marschierte den Gang entlang. Ihre Stirn legte sich in Falten, da sie für einen kurzen Moment ihren eigenen Ohren zu misstrauen schien. Der Schrei kam aus Meister Brehms Gemächern. Sie bleib vor dessen Räumlichkeiten stehen und lauschte. Als sie einen weiteren Schrei hörte, der längst nicht mehr so kräftig klang wie der erste, trat sie mit solcher Wucht gegen die Tür, dass sie weit aufschlug und sich dabei fast aus den Angeln hob. Geschockt nahm sie die Szenerie auf, die sich ihren Augen darbot. Meister Brehm stand mitten im Raum und hielt Filou am Nacken gepackt, wobei das kleine Tier vergeblich versuchte, sich heftig zu wehren. Ein weiterer Mann, komplett in Rot gekleidet, trat Sanara die auf dem Boden lag, heftig in den Magen. Der Rosendiener warf der Kriegszauberin einen entgeisterten Blick zu, als auch schon einer von Mais Wurfsternen tief in seine Stirn eindrang. Der Mann war tot, bevor sein Körper auf den Boden aufschlug. Dann konzentrierte sie sich in Bruchteilen von Sekunden. Die Luft um Mai begann zu flirren und ihre Robe wehte Unheil verkündend an ihrem Körper. Urplötzlich verstand sie, erkannte den tieferen Sinn in Vitras Fragen, die Rosendiener betreffend. Brehm starrte sie fassungslos an. Tränen liefen Mais Wangen herunter. Ihre Enttäuschung, gepaart mit Wut, ließen sie ihren ehemaligen Meister plötzlich mehr hassen, als Harun Ar Sabah selbst. Als Brehm das Schwirren der Luft um Mais Körper, und das Wehen ihrer Robe wahrnahm, ließ er den armen Filou sofort fallen, um ihren Angriff entgegenwirken zu können. Doch obwohl er sie all die Jahre ausbildete, er war nur ein Träger der scharlachroten Robe. Der Macht einer Kriegszauberin war er nicht gewachsen. Mai ließ eine harte Druckwelle auf Brehm los, die den alten Zauberer ins straucheln brachte, als zwei weitere Rosendiener in den Raum stürzten und Mai angriffen. Brehm schöpfte durch die unerwartete Hilfe neue Hoffnung und jagte nun seinerseits eine Welle zusammengepresster Luft auf die Kriegszauberin. Ohne Vorwarnung erlöschen schlagartig sämtliche Fackeln und ein bläuliches Licht durchflutete den gesamten Raum. Brehm traute seinen Augen nicht als er gewahr wurde, dass Sanara die Quelle des Lichtes darstellte. Die Luft um sie herum flimmerte so kräftig, dass sie sogar zu knistern begann. Wie damals in der Bibliothek, als sie die Kerze wieder zusammenfügte. Sanara entfesselte ihren Willen und Brehm bekam einen dermaßen kräftigen Schlag, dass er durch die geschlossene Balkontür aus Glas geschleudert wurde. Er schaffte es gerade noch sich am Geländer festzuhalten, als ihn ein weiterer Stoß traf, so dass er sich nicht mehr halten konnte. Der Körper des Zauberers fiel fünf Stockwerke tief, bis er direkt vor zwei patrouillierenden Wachen auf dem Boden aufschlug. Mai hatte inzwischen die verbliebenen Rosendiener getötet und hielt ihren Blick sprachlos auf Sanara gerichtet. Das bläuliche Schimmern ließ allmählich wieder nach, indem es sich in Sanaras Körper zurückzog, bis der gesamte Raum ins dunkle tauchte:
„Bist du verletzt? Bist du in Ordnung Sanara?“ fragte Mai als sich das Mädchen zu ihr herumdrehte. Ein schwacher Lichtschein fiel vom Flur ins Zimmer so dass Mai Sanaras Gesichtszüge erkennen konnte. Dabei entdeckte die Kriegszauberin einen Ausdruck, den sie nie zuvor bei dem Mädchen sah, und der sie schlucken ließ.
Von all dem Lärm herbeigerufen, erklangen von weitem die Rufe und Schreie besorgter Wachen, die sich rasch näherten. Mai und Sanara starrten sich nur wortlos an, als sie auch schon Vitras kräftige Stimme vernahmen. Filou lag inzwischen wieder auf Sanaras Schultern, als Mai die Fackeln Kraft ihres Willens neu entfachte. Im nächsten Augenblick kam Vitras in Begleitung mehrerer Wachen ins Zimmer gestürmt.
„Was bei allen Göttern ist hier los?“ brüllte Vitras entgeistert. Als er die toten Rosendiener und die zerstörte Balkontür wahrnahm, bekam seine Stimme einen beinahe ängstlichen Unterton:
„Sanara, was ist hier geschehen?“
Sanara stand jetzt mitten im Raum und antwortete ihrem Großvater in einem kalten, fast schon gelangweilten Tonfall:
„Ich habe ihn getötet Großvater! Ich habe Meister Brehm getötet!“
Vitras blickte fragend zu Mai, die jetzt an einer Wand gelehnt auf dem Fußboden saß und ihr Gesicht in den Händen vergrub. Sie weinte. Vitras schritt durchs Zimmer, an seiner Enkeltochter vorbei und betrat den Balkon. Dann schaute er herunter auf den Hof. Er erblickte den zerschmetterten Körper von Meister Brehm und eine mittlerweile stattliche Anzahl von Soldaten, die aufgeregt hin und her liefen. Dabei brüllten sie Befehle in alle möglichen Richtungen. Der Kriegszauberer rief ihnen hinunter, dass im Palast alles in Ordnung sei, und er sich persönlich um die Angelegenheit kümmern wolle. Durch die Wachmannschaften ging ein Ruck der Erleichterung. Dann schickten sie sich an den Leichnam fort zu schaffen. Vitras kehrte um und betrat wieder das Zimmer. Er befahl den Soldaten, ihn und Mai allein zu lassen. Als er auch Sanara bat in ihre Gemächer zu gehen, bedachte das Mädchen ihren Großvater mit einem Gesichtsausdruck, dass dieser regelrecht erschrak.
„Nein Großvater, ich werde nicht gehen! Ich bleibe bei dir und Mai. Ich will wissen warum das alles geschehen ist!“
Vitras bedachte sie mit einem prüfenden Blick, dabei wurde ihm bewusst, dass er seine Enkeltochter nicht länger wie sein kleines Mädchen behandeln konnte. Die Zeit war gekommen, dass er ihr einiges erklären musste.
„Also gut, wie du möchtest!“
Vitras gab dem Leutnant der Wache, der sich als einziger Soldat noch im Zimmer befand, ein Zeichen, worauf er den Raum ebenfalls verließ. Die von Mai eingetretene Tür ließ sich jedoch nicht mehr schließen. Ein Gedanke des Kriegszauberers reichte jedoch aus, um dies Problem zu lösen. Vitras befand sich nun mit seiner Enkeltochter und Mai allein in Brehms Gemächern. Er ging zunächst zum Schreibtisch des Toten und nahm einige Papiere vom Tisch, die er überflog. Mai saß noch immer auf dem Boden und schien komplett in ihrer eigenen Welt versunken. Der Verrat ihres ehemaligen Mentors, des Mannes der einen Vaterersatz für sie darstellte, hatte sie schwer getroffen. In all den Jahren nichts bemerkt zu haben und ihm völlig zu vertrauen, ließ sie jetzt an ihren eigenen Fähigkeiten zweifeln.
„Was