Und so war ich oft bei Marielou, oder zumindest in ihrer Nähe, ohne dass sie es merkte. Ich kenne ihre Lieblingswege inzwischen und weiß, dass sie morgens losstreunt und erst abends wiederkommt, dass sie sich treiben lässt in diesem friedlichen Land, wie ich es tue. Sie scheint kein starres Tagesprogramm zu haben wie die anderen hier. Sie wirkte eher wie eine, die sich von ihren Eindrücken leiten lässt, und von ihren Wahrnehmungen unterwegs. Vielleicht ist sie eine kleine Vagabundin, wie ich?
Ich habe ihr angesehen, wie verzaubert sie von diesem Ort ist, wahrscheinlich deshalb weil ich es kenne, denn mir ging es vor vielen Jahren genau so: seit ich zum ersten Mal hier war, wollte ich nicht mehr weg von Eiderstedt.
Tatsächlich kann zwischen einem Menschen und einem Ort etwas Besonderes existieren, das weder benannt noch erklärt werden kann. Niemand kann es benennen und erklären, weil es rational nicht existiert. Es ist irgendetwas, was als Schwingung, Karma oder Chemie durch das gutbürgerliche Vokabular kursiert, aber nie wirklich für voll genommen wird. Ich nehme es für voll, absolut. Mir schenkt Eiderstedt Zufriedenheit, und somit etwas, was in meinem Stadtleben zuletzt nicht mehr vorkam. Hier kann ich durchatmen und mit den Füssen fest auf dem Boden stehen. Auf festem Boden, der in der Stadt mit ihrer Vielfältigkeit so oft irritierend wankt.
Marielou schien viel nachgedacht zu haben, wenn ich sie unterwegs gesehen habe am Strand. Wer mit Fragen im Gepäck anreist, braucht Geduld, denn es ist sinnlos, ungeduldig auf Antworten zu warten. Wichtig ist, sich den Lebensfragen hinzugeben und ihnen Zeit und Raum zu bieten, um so den Antworten zu ermöglichen in Erscheinung zu treten.
Dabei hilft es, Vertrauen zum eigenen Lebensfluss aufzubauen. Ein Urlaub allein eignet sich wunderbar dafür, denn Alleinsein ist etwas Wesentliches: bewusstes Alleinsein bedeutet, Wahrnehmungen und Gefühle mit sich selbst auszumachen, ohne sie abgeben oder teilen zu können. Negative Empfindungen zulassen zu können und eigenständig in der Lage zu sein, sie umzuwandeln in etwas Produktives, Bereicherndes, das trainiert die Selbstsicherheit im Leben: sich sicher zu sein mit dem Selbst. Und das kann Verschüttetes wieder auftauchen lassen; verschütt gegangene Visionen seiner selbst, die in der Ruhe und Selbstversunkenheit plötzlich auftauchen können wie verschollene Schätze.
Mir selbst ist erst in vielen Jahren des Fragens klar geworden, dass mit sich selbst gut auszukommen das Wichtigste ist, was es zu einem guten Leben braucht, zusammen mit dem Vertrauen in sich selbst. Im umtriebigen Alltag gleicht es aber oft einer Kunst, sich an diesen Lebensfluss zu erinnern. Denn so mancher wird in seinem Alltag mehr von außen geschoben und gelenkt, als selbst von innen zu fließen.
Eigentlich sind mir andere Menschen völlig egal. Aber Marielou hat etwas, was mich interessiert. Vielleicht hat sie ganz einfach etwas von der Person, die ich einmal war, vor vielen Jahren? Wenn das so ist, dann wird sie wiederkommen nach Eiderstedt, und dann will ich wissen, wie sich ihr Leben entwickelt.
Auch wenn ich kaum Kontakte zu den Einheimischen habe, so weiß ich doch, wie ich mir die Informationen beschaffen kann, die ich haben will. Mein Blick ist weit.
Zwiespalt
Zurück in der Stadt. Hochsommerstadt. Es ist schön, meine beiden liebsten und vertrautesten Menschen wieder um mich zu haben. Wir sitzen auf der Terrasse unserer Dachgeschosswohnung, in der Ferne blinkt der Fernsehturm vom Alexanderplatz.
Ich erzähle, viel und lange. Am meisten davon, wie sehr mich das neu entdeckte Land begeistert hat. Linda und Tim freuen sich für mich. Aber ein bisschen bin ich ihnen auch fremd.
„Du bist anders geworden“, meinen sie.
Ich spüre das auch. Erklären kann ich es aber nicht. Mir fehlen die Worte dafür, die beschreiben könnten, was dieses Stück nordfriesische Küste mit mir gemacht hat.
Wir gehen noch auf die Modersohn-Brücke. Das ist Kult hier, in unserem Kiez. Die Brücke führt über die S-Bahngleise, und von ihr aus ist abends der Sonnenuntergang hinter dem Fernsehturm zu beobachten. Wenn die Abende so lau sind, wie heute, ist viel los. Dann versammeln sich die Kiezbewohner auf der Brücke, trinken ihr mitgebrachtes Bier. Einer sitzt mit seiner Gitarre da, und spielt und singt selbstkomponierte Lieder. Von der Liebe, und vom Fernweh. Für mich?
Zu Beginn des Sommers war ich hier gerne. Jetzt aber kann ich diesem Kult nichts mehr abgewinnen: zu viele Menschen, zu viel Stimmengewirr, und hinter unseren Rücken brausen Autos vorbei. Ich kenne das nicht mehr, den Sonnenuntergang zu teilen. Und ich weiß nicht, ob ich es wieder lernen mag.
Ich mag zurück nach Hause. Gestern noch war das mein Haus im Norden.
Das ganze Wochenende liegt noch vor mir, bevor der Büroalltag wieder beginnt. Bekomme Besuch von einem Freund. Wir hatten uns lange Zeit nicht mehr gesehen. Sitzen im Straßencafé über hitzeflirrendem Asphalt und erzählen uns unsere Leben.
„Du wirkst so unglaublich authentisch“, sagt er.
Ja, er bringt es auf den Punkt, so fühle ich mich auch. So echt, so normal, so selbst. Noch habe ich sie bei mir, die Authentizität, die ich im Norden entwickelt habe. Mag sie auch nicht loslassen. Aber verliere sie trotzdem, mit jedem Tag mehr in der Stadt.
Schon in der ersten Arbeitswoche wieder wird mir die Stadt zu viel, und zu anstrengend. Die langen Wege, um von einem Ort zum anderen zu gelangen, machen mich irre. Wege voller Menschen, Lärm, Werbeplakaten. Reizüberflutung, in den Augen, in den Ohren, im Gehirn. Stinkende, lärmende Stadt auf jedem Weg ins Büro, und zurück. Und ich mittendrin. Freiwillig.
Die Menschen rennen so viel. Sie rennen der U-Bahn hinterher, obwohl die doch im Berufsverkehr alle fünf Minuten kommt. Sie rennen über rote Ampeln, um den Bus zu erwischen. Sie rennen und hetzen - wofür? Um am Ende zehn Minuten früher im Büro zu sitzen? Was haben sie davon, außer dafür ihr Leben riskiert zu haben?
Ich beobachte sie, während ich still auf die nächste Bahn warte. Und frage mich, warum ich eigentlich so lebe, wie ich lebe? In einem anstrengenden Moloch, in dem ich das Geld verdiene, mit dem ich mir zehn Tage schöne Welt pro Jahr kaufe?
Zwischen Berlin und mir existiert schon immer etwas wie eine Hassliebe. An manchen Tagen kann ich Berlin einfach nur umarmen und lieben. Und an anderen Tagen nervt sie mich an, diese Stadt - mit ihren Hässlichkeiten aus Beton, und ihren Miniatur-Grünflächen, die Natur vorgaukeln wollen. Mit ihrem rauen Ton, der menschengemacht ist.
Seit meiner Rückkehr schweigen wir uns an, Berlin und ich. Wissen nicht mehr, was wir voneinander halten sollen.
Im Büro ist alles wie immer. Hatte ich etwa etwas anderes erwartet? Wie viel Zeit müsste vergehen, dass sich in einem Büroalltag Veränderung zeigt? Geht es anderen auch so - dass es ihnen manchmal auf die Füße fällt, das ewige das-Gleiche-tun?
Einer Kollegin vielleicht: sie hat gekündigt, und wechselt in eine andere Agentur. Sie verändert ihr Tätigkeitsumfeld, nicht aber ihre Tätigkeit. Ob das ausreicht, um Veränderung empfinden zu können? Ich glaube es nicht. Lasse mir das aber nicht anmerken, als sie euphorisch von ihrem zukünftigen Arbeitsplatz erzählt. Sehe ihr zu, wie sie strahlt, voller Erwartung auf etwas völlig Neues. Gedanklich prognostiziere ich ihr Enttäuschung.
Sie hatte ihren neuen Job gesucht, auf dem Stellenmarkt. Mein Weg wäre das nicht. Nicht, wenn ich eigentlich zufrieden bin mit dem was ich habe, und einfach nur ein bisschen Langeweile empfinde. Dann will ich nicht aktiv die Veränderung suchen. Weil ich glaube, dass sie kommt, wenn sie kommen soll. Ich will dann nur eines: wach und aufmerksam sein. Um ihr die Tür öffnen zu können, wenn sie anklopft, die Veränderung. Solange sie das nicht tut, will ich schätzen, was ich habe. So habe ich es mir jedenfalls vorgenommen, letzte Woche, im Bad in der Nordsee.
Für einen kurzen Moment sehe ich die Wasserperlen auf meiner Haut glitzern. Aber es ist nur eine Illusion.
Zufriedenheit, in meinem Urlaub noch war sie so nah.