“Mit anderen Worten”, seufzte Justin, “ist das Ganze ein Horrorszenario entsetzlichen Ausmaßes. Denn wenn unser Dad auspackt, wird Ramírez ihn und uns töten. Von daher wäre es fast besser, Dad würde versuchen, sich selbst irgendwie umzubringen...”
“Sag sowas ja nicht noch mal!”, fuhr ihm Sophie dazwischen, “hörst du, sag das ja nicht noch mal!”
“Sophie, eins kannst du mir glauben”, entgegnete Justin betrübt, “wenn ich eine Möglichkeit sehen würde, wie ich ihm helfen könnte, ich würde für ihn sogar durch die Hölle gehen. Ich habe nämlich keine Idee, wie er irgendwie fliehen kann. Und selbst wenn es ihm gelingen würde, hätte er immer noch nicht seine Unschuld bewiesen. Das ist einfach nur sowas von schrecklich, darüber darf ich gar nicht nachdenken. Im Prinzip wird er sein ganzes Leben lang auf der Flucht sein.”
“Zumindest müsste er sich eine neue Identität zulegen”, fügte Martha noch an, “was eigentlich fast unmöglich wäre, weil er leider Harrison Ford so ähnlich sieht. Tatsache ist aber, dass wir nie wieder Kontakt zu ihm haben können werden, um sein Leben nicht zu gefährden.”
“Oh mein Gott!”, entfuhr es Sophie, und sie brach in Tränen aus, “das darf doch alles nicht wahr sein!”
Martha nahm ihre Tochter in den Arm und drückte sie ganz fest an sich. Sophie heulte nur noch mehr und konnte sich nahezu gar nicht mehr beruhigen.
“Liebes”, meinte Martha, “ich kann ja deinen Schmerz verstehen. Aber ich bitte dich trotzdem sehr herzlich, dass du versuchst, dich möglichst gut im Griff zu haben, weil du sonst uns und ihn sehr gefährdest.”
“Ja, ja natürlich”, schniefte Sophie, “aber irgendwie musste ich meinen Gefühlen eben Luft machen, weil ich sonst geplatzt wäre. Hinzu kommt noch die quälende Frage, warum Gott das alles zugelassen hat. Ich studiere Theologie und stehe auf einmal vor einem Scherbenhaufen. In gewisser Weise kann ich Onkel Jerry jetzt besser verstehen. Ich komme mir vor wie ein Dummschwätzer, der irgendeinen hochtrabenden Kram über ein imaginäres Wesen verzapft.”
Kapitel
Miguel ließ Thomas von seinen Leuten abführen und in einen Hubschrauber verfrachten. Er selbst stieg ebenfalls ein, und dann flog der Helikopter los. Die Strecke, die er zurücklegte, erschien Thomas relativ kurz, aber das war nur ein Gefühl. Schließlich konnte er nicht abschätzen, wie schnell die Maschine flog.
Als sie gelandet waren, zerrten die Handlanger den Bundesrichter aus dem Hubschrauber heraus und zu Fuß weiter. Thomas strauchelte ein ums andere Mal, weil der Boden uneben war und er ja nichts sehen konnte. Dieser Marsch kam ihm deshalb viel länger vor als der Flug. Aber dann hatten sie endlich ihr Ziel erreicht.
Ramírez wies seine Handlanger an, dem Amerikaner die Augenbinde abzunehmen. Wegen des hellen Lichts blinzelte Thomas ein wenig. Aber dann blickte er sich um. Für einen Moment konnte er nicht glauben, was er sah. Es kam ihm vor, als sei das alles hier ein böser Traum. Aber nachdem der Drogenbaron ihm den Ohrring verpasst hatte, wunderte ihn das hier fast gar nicht mehr, denn es passte genau zu Miguels Charakter.
Er befand sich auf einem gerodeten Freiplatz im Dschungel, über dem hoch oben die Äste der großen Urwaldriesen einen Baldachin bildeten. Dadurch war das Areal gegen Blicke aus der Luft geschützt, gleichzeitig drang aber genügend Licht durch das Blätterdach. Auf dem Gelände selbst stand eine ganze Anzahl von Hütten, Käfigen gleich, deren Dächer notdürftig mit Wellblech gedeckt waren. In diesen Behausungen saßen Männer, die so wie er mit Ketten gefesselt und ähnlich angezogen waren. Frauen schien es dort keine zu geben.
Der Drogenbaron ließ Thomas so in der Mitte des Lagers postieren, dass ihn alle Gefangenen in den Hütten genau sehen konnten. Dann hob er die Hand zum Zeichen, dass er etwas sagen wollte. Sofort verstummte rundherum das Gemurmel.
“Lieber Mitarbeiter, liebe Abgesandte”, begann er, “ich darf Ihnen ein neues Mitglied unserer Dorfgemeinschaft vorstellen. Dieser Herr hier ist Dr. Thomas Zedekiah McNamara, seines Zeichens Bundesrichter der Vereinigten Staaten von Amerika. Oh, ich muss mich korrigieren, ich habe mich nicht korrekt ausgedrückt, dieser Herr ist Justice Dr. Thomas Zedekiah McNamara. Ich hoffe, Sie entschuldigen meine Unbedachtheit, Sir.”
Miguel blickte seinen Gefangenen erwartungsvoll an.
“Ich entschuldige das durchaus”, entgegnete Thomas mit einem gütigen Lächeln, “aber vielleicht sollten Sie den Herrschaften hier noch sagen, dass ich zur Zeit auf Dauerurlaub in Südamerika bin und aufgrund meiner plötzlichen Abreise leider keine Gelegenheit hatte, meine Aufgaben an jemanden zu übergeben, der mich vertreten kann.”
Der Kolumbianer grinste breit und meinte: “Sie waren mal wieder sehr vorausschauend, und offenbar ist Ihnen der Humor noch nicht vergangen. Aber das wird sich gleich ändern.”
Du bist ein absoluter Blödmann, Thomas, dachte der Bundesrichter, warum hast du den Kerl provoziert? Aber auf der anderen Seite ist es wahrscheinlich eh egal, weil er immer wieder einen Aufhänger findet, weswegen er mich quälen kann. Von daher kann ich wenigstens auch ein bisschen Spaß haben.
“Justice Dr. McNamara hat uns gerade schon sehr treffend erklärt, dass er gern längere Zeit bleiben will.”
Miguel machte eine kleine Pause. Dadurch erwischte er aber zwei Gefangene dabei, wie der eine dem anderen etwas ins Ohr flüsterte und der Angeredete missmutig den Mund verzog.
“Ich kann es nicht billigen”, zischte er die Männer an, wobei er auf ihre Hütte zuging, “dass Sie meine Autorität dadurch mit Füßen treten, dass Sie es wagen, sich zu unterhalten, während ich eine Ankündigung zu machen habe. Offenbar leiden Sie unter Gedächtnisschwund. Aber wie heißt es so schön: ‘Ein voller Bauch studiert nicht gern.’ Wahrscheinlich waren Ihre kleinen grauen Zellen durch eine zu große Essensportion lahmgelegt. Damit das nicht so schnell wieder passiert, werden Sie heute Abend kein Essen bekommen.”
Er sah die beiden durchdringend an und kniff die Augen zusammen.
“Ich denke, wir haben uns verstanden?!”, horchte er nach.
Die beiden Männer nickten nur.
“Fein, dann kann ich mich ja wieder unserem neuen Familienmitglied widmen. Wo war ich doch gleich noch stehengeblieben?”, meinte er sinnend, “ach ja, der Herr Bundesrichter möchte für längere Zeit bei uns bleiben. Und weil er nicht irgend so ein durchschnittlicher Mann, sondern jemand ganz besonderes ist, hat er auch einen besonderen Status. Sie, meine Herren, sind entweder meine Mitarbeiter oder die Abgesandten Ihrer Familien und Arbeitskollegen und wen es da sonst noch alles geben mag, der gern einen Vertreter in meiner Nähe hätte. Aber dieser Mann hier ist mein Eigentum. Wenn sich also jemand an ihm vergreift oder ihm irgendeinen Schaden zufügt, dann ist das so, als würde er sich an mir vergreifen.”
Miguel machte eine Pause und wandte sich dem Lageraufseher zu.
“Jaime”, sprach er ihn an, “kommen Sie mal bitte hierher.”
Jener gehorchte sofort.
“Jaime, wie lange stehen Sie schon in meinen Diensten?”
“Acht Jahre, Señor Ramírez.”
“Fein, Sie haben schon viel Erfahrung. Das ist gut, sehr gut. Okay, ich habe hier eine ganz besondere Aufgabe für Sie. Ich lege mein Eigentum in Ihre verantwortungsvollen Hände und hoffe, dass Sie ein guter Verwalter sein werden. Und das sind Ihre Kompetenzen: