Die Volksküche
Bei der Begrüßung hatte der Bürgermeister ihnen mitgeteilt, dass sie für die Volksküche Essensmarken ausgehändigt bekämen, wie er sich ausdrückte.
Nach dem sie diese dann am nächsten Tag erhalten hatten, machten sich alle sofort auf dem Weg dorthin. Die Volksküche befand sich in einer Baracke auf einem weitläufigen Geländer neben einer Viehauktionshalle.
Der neue Mittelpunkt
Sie wurde bald für die Flüchtlinge zu einem unverzichtbaren Lebensmittelpunkt, denn in ihren Unterkünften gab es meistens keine Kochgelegenheit und für Kochtöpfe und Ähnlichem wäre in ihrem Fluchtgepäck auch kein Platz gewesen.
Dass sie aber weit mehr als nur eine Essenausgabestelle war, zeigte sich jeden Tag. Wenn die Ausgabeschalter schon lange geschlossen hatten und das Licht schon abgeschaltet war, blieben viele von ihnen noch lange zusammensitzen. Die ungemütliche meist kalte Unterkunft im Lager oder in ihren Quartieren lockte verständlicherweise nicht zum Aufbruch.
Das Zusammensein dort wurde auch für den Austausch von Informationen genutzt. Bei fast jede Gelegenheit wurde gefragt, wo kommst du her und wen kennst du. Es war zwar meistens völlig aussichtslos, dadurch vermisste Angehörige zu finden, aber gehofft wurde immer. Das bewiesen schon die hunderte Zettel, die an Mauern und Bäumen klebten, wo immer Flüchtlinge zusammenkamen. Anfangs hatte auch Klaus sie neugierig gelesen, aber er merkte schnell, dass der Leser auch das Elend und die Angst des Schreibers mitbekam. Deshalb mied er diese Stellen, weil ihn schon alleine der Anblick dieser Zettel belastete.
Viele hatten vor dem völligen Zusammenbruch aller Informationen, noch Verabredungen treffen können, wo man sich für den Fall der Fälle treffen könne. Das waren Verwandte oder bestimmte Orte, was von allen Strategien noch die erfolgreichste war. Die Suche nach Angehörigen kam direkt nach dem täglichen Kampf ums Überleben, und beschäftigte alle Tag und Nacht. Es war eins der Probleme, welches die Einheimischen nicht hatten, denn deren noch vermisste Angehörige wussten, wo sie sich treffen konnten.
Es gab in der Volksküche einige, die bei Suche nach Angehörigen behilflich waren. Deren Tisch war nach der mittäglichen Esseneinnahme immer regelrecht belagert, sodass sie richtige Sprechzeiten mit Voranmeldung hatten. Man kannte dort die Adressen der Suchdienste und half beim Verfassen der berüchtigten Suchzettel. Die besten Adressen für das Aufhängen derselben waren bekannt und es gab sogar Kuriere, die für das Anbringen sorgten.
Schwierigkeiten gab es aber schon bei den einfachsten Dingen, kaum einer hatte Papier für die Zettel, dann mangelte es auch einzelnen an der Fähigkeit, sich richtig auszudrücken. Deshalb war Hilfe erwünscht und dieser wichtige Dienst wurde nach einiger Zeit an eine zentrale Stelle im Rathaus verlagert. Aber niemand vergaß diese Erstehilfe in der Volksküche.
Später bildeten sich nach dem täglichen Mittagessen in der Volksküche weitere lose Gruppen, die Skat oder Schach spielten. Andere diskutierten über Literatur, Theater, sowie Gott und die Welt, wie Oma immer sagte.
So war die Volksküche als Versammlungsort, ganz von alleine allmählich zu einer gesellschaftlichen Institution geworden. Manchmal schien es, als wenn sich zu denen da draußen, den Einheimischen, eine Parallelwelt entwickeln würde. Für die waren sie nur Eindringlinge, die aus dem wilden und unzivilisierten Osten gekommen waren.
So sahen es die Flüchtlinge. Denn für einem Angeliter Kleinbauern waren die gesellschaftlichen Verhältnisse auf den pommerschen großflächig organisierten Gütern und Bauernhöfen nur schwer verständlich. Wenn dann einer von den Flüchtlingen berichtete, wie viel Land er in Pommern unter dem Pflug gehabt hatte, dann wurde er verspottet, das wäre wohl eher Wind hinter dem Haus gewesen, aber den gäbe es hier auch.
Die offiziellen Stellen waren da keineswegs anders, so erzählte man sich, dass vom Finanzamt Hamburg, eine Steuerermäßigung wegen der Wiederbeschaffung eines Küchenherdes abgelehnt worden war, weil bezweifelt wurde, dass der im Osten zu den normalen Haushaltsgegenständen gehörte.
Deshalb unterblieb oft jede Kommunikation zwischen Flüchtlingen und Einheimischen, um Konflikte und Kränkungen zu vermeiden.
Die Mittagesser
In der Mitte der Volksküche stand ein eiserner Kanonenofen auf einem niedrigen gemauerten Unterteil. Im Winter wurde er schon am frühen Vormittag angeheizt. Wegen der meist nicht vollständig getrockneten Buchenholzscheite stand die große Ofentüre bei Heizungsbeginn immer eine Zeit lang offen, damit das Feuer mehr Zug bekam, meinten die um den Ofen herumstehenden. Aber mitbestimmend war auch die besondere Atmosphäre, die der Anblick des offenen Feuers erzeugte. Er wirkte dann wie ein offener Kamin.
Das flackernde Feuer, das Knistern der zusammenbrechenden Holzscheite in dem im Winter noch halbdunklen Speiseraum war beeindruckend. Man konnte sich kaum vom Anblick der Flammen lösen. Einige Männer wachten besorgt darüber, dass niemand von den vor dem Ofen sich drängelnden Kindern, im Feuer herumstocherte.
Wenn Klaus und seine Kumpane sich alleine vor der offenen Ofentüre am Feuer zu schaffen machen konnten, war das wie ein kleines Abenteuer. Es herrschte eine, nur durch das knistern vom Feuer und zischen der teilweise feuchten Scheite unterbrochene magische Stille. Das ferne Klappern von Geschirr aus der Küche störte nicht, es gehörte dazu. Der typische Geruch vom brennenden noch leicht feuchten Buchenholz mischte sich mit dem, der von der Küche kam, und hat sich für jeden, der dort morgens um den Kanonenofen bei offener Ofentüre stand, für immer eingeprägt. Dieser Geruch und die ausströmende Wärme waren ein Begriff für Geborgenheit. Denn Wärme war nach Essen der zweitwichtigste lebenserhaltende Faktor für die Flüchtlinge, das war jedem klar.
Die Sitzplätze in Ofennähe schienen einigen älteren Flüchtlingen vorbehalten zu sein, denen die Kinder alle respektvoll auswichen, denn sie hatten einen Ton an sich, den viele noch all zu gut kannten und bei dem sie immer noch innerlich strammstanden. Sie durften aber ohne sich Ärger einzuhandeln, vor dem Ofen stehend erwärmen oder ihre manchmal schneenassen Hosen, Strümpfe und Handschuhe trocknen, aber wehe, wenn einer sich auf die danebenstehenden und manchmal noch leeren Bänke niederließ, die als reserviert galten.
Es gab einige der Mittagsgäste, bei deren Erscheinen immer wieder getuschelt wurde. Da war der Fabrikant, so nannte man den Mann eines älteren Ehepaares. Das Kennzeichen war sein Hut, ein schwarzer Homburger, der wohl früher einen sehr eleganten Eindruck hinterlassen haben muss, aber jetzt schon sehr ramponiert war. Aber man sah ihm an, dass er noch jeden Tag gebürstet wurde. Auch die sonstige Kleidung konnte man so charakterisieren. Man erzählte sich, dass er in Stettin eine große Fabrik besessen hätte. Folglich stellte sich Klaus für lange Zeit so einen Fabrikanten vor. An den allgemeinen Gesprächen unter den Flüchtlingen beteiligte er sich nicht. Zu seiner Frau, die ihn stets fürsorglich eingehakt und somit gestützt begleitete, gab es nichts Besonderes zu bemerken.
Ein anderes ebenfalls bemerkenswertes Paar war deutlich umgänglicher. Von der Frau wusste man, dass sie eine erfahrene Hebamme war, weshalb sie bei einigen Frauen eine gerne gesehene Gesprächspartnerin war, da viele von ihnen infolge der Vergewaltigungen durch die Russen schwanger geworden waren und sie deshalb einen Ausweg suchten, wobei sie ihnen helfen sollte. Nach einiger Zeit fiel auf, dass ihr Mann alleine zum Essen kam. Bis durchsickerte, dass sie verhaftet worden war, weil sie bei einer Abtreibung mitgewirkt hätte.
Nach einigen Wochen war sie jedoch wieder da, was von vielen mit deutlich erkennbarer Erleichterung zur Kenntnis genommen wurde. Ihr Mann, der Musiker war hatte jetzt Hochkonjunktur, weil alle nach dem durchgestandenen Schrecken und Grauen des Krieges nur noch vergessen wollten, da half außer Alkohol auch das Tanzvergnügen und für Letzteres benötigt man Musik.
Seine Frau aber war über die zahlreichen Engagements ihres