Das Tagebuch des Schattenwolfprinzen. Billy Remie. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Billy Remie
Издательство: Bookwire
Серия: Legenden aus Nohva 3
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742790316
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sie, sie gingen uns aus dem Weg. Die einzigen Wölfe, die ich fürchten musste, waren meine eigenen.

      Derrick trat um den Karren herum und lehnte sich lässig dagegen. »Mein Bruder?«

      Mein Blick war noch in den düsteren Wald gerichtet, dessen Tannen so dicht beieinanderstanden, dass nicht einmal das grelle Licht des Mondes sie durchdringen konnte. Ich stand vor einer schwarzen Wand.

      Die Augen weiterhin in die Schwärze gerichtet, sagte ich zu Derrick: »Ich war wieder da. Vor zehn Jahren.«

      Ich konnte ihn nicht sehen, aber ich spürte deutlich, wie sich auch sein Körper verspannte.

      »Aber es war nicht wie damals«, erklärte ich weiter, mein Blick geriet nun in Dimensionen, die ein anderer außer Derrick nicht hätte erfassen können. »Wir gingen zum Fluss, du und ich, und als wir zurückkamen ...«

      »Ich war da, Mel, du musst es mir nicht beschreiben«, blockte Derrick ab.

      Ich schluckte schwer, doch mein Blick war eine grimmige Maske. Ich drehte mich zu ihm um und sprach unbeirrt weiter. »Wir kamen nicht zur Mauer, in meinem Traum.«

      Nun runzelte Derrick doch neugierig seine Stirn. Er wartete ab.

      Ich starrte zu Boden, als ich weiter berichtete: »Ich blieb stehen und ... da war Blut ... überall. Überall war Blut. Ein blutdurchtränkter Wald ...«

      »Ein Traum, Mel, nichts weiter.«

      »Menard sagte, Träume zeigen uns unsere größten Ängste«, flüsterte ich. Und ich wollte doch vor nichts Angst haben! Das durfte nicht sein.

      »Es ist lange her ...«

      »Alles war verschwommen«, unterbrach ich Derricks armen Versuch, das Thema abzutun. »Und ich war plötzlich allein. Ich hörte sie schreien. Meine Mutter ... meine Geschwister ... Und ... und da waren ihre Arme ... Blut verschmiert und verwest ... als lägen sie schon zehn Jahre unter der Erde ... Sie griffen nach mir ... und ich rannte vor ihnen davon.«

      »Dämonen«, glaubte Derrick. »Sie kommen in Träumen und lassen dich sehen, was nicht echt ist. Das war nicht deine Familie.«

      »Vielleicht«, gab ich zurück. Aber wusste ich das mit Sicherheit? Sie hätten es auch wirklich sein können. Aus dem Totenreich. Es könnte doch möglich sein, oder?

      »Vielleicht finden sie keine Ruhe.« Ich sah Derrick direkt in die Augen. »Möglicherweise war es ein Hilferuf. Sie verfolgen mich, weil ich der einzige bin, der ihnen ewige Ruhe bringen kann.«

      »Mit Rache?« Derrick hörte sich skeptisch an.

      »Mit Gerechtigkeit«, konterte ich und ballte eine Faust.

      »Der Spalt zwischen Rache und Gerechtigkeit ist dünn«, warf Derrick ein. »Du verwechselt das eine sehr oft mit dem anderen, mein Bruder.«

      Witzig, das sagte Menard auch stets zu mir.

      Nachdenklich kaute ich auf der Innenseite meiner Wange.

      Plötzlich stand Derrick vor mir und legte eine Hand auf meine Schulter. Er drückte brüderlich zu und versuchte sich an einem schiefen Lächeln. »Es war nur ein Traum. Wir sind über die Mauer. Du und ich. Und du warst nicht allein. Wir waren nicht allein. Wir haben getan, was wir konnten, Bruder. – Mal gewinnt man, mal verliert man.«

      Doch ich schüttelte den Kopf.

      »Du warst nicht allein!«, sprach Derrick auf mich ein. »Es war nur ein Traum, nicht die Wirklichkeit.«

      »Damals war ich nicht allein«, stimmte ich zu, entfernte jedoch mit ernstem Blick seine Hand von meiner Schulter. »Aber in Träumen ist jeder auf sich gestellt.«

      »Es war nur ein Traum«, wiederholte Derrick eindringlich.

      »Vielleicht«, erwiderte ich und lief an ihm vorbei.

      Ohne ein weiteres Wort ging ich zurück zum Lager, aber an Schlaf war eine Weile nicht mehr zu denken.

      7

       So ratet mal, wer ich wirklich bin.

      Unser Zuhause war unsere Wolfshöhle. Es handelte sich dabei tatsächlich um eine Höhle, doch wir hatten sie zu einem Heim gemacht. Sie lag versteckt, direkt neben Menards unterirdischer Zuflucht. Eine große Steintür in einem Felsen führte in sein Alchemielabor, wo der alte Schamane Dinge zusammenbraute, die ich nicht einmal verstehen würde, wenn ich hundert Jahre lang Forschungen darüber betreiben würde.

      Jedenfalls lag der Eingang zu unserer Höhle unmittelbar neben dieser massiven Felstür. Während Menard gut gesichert war, schützten uns nur einige Holzbretter und eine Tür, die wir vor Jahren in die große Höhlenöffnung gebaut hatten. Dahinter war die Höhle riesig, ich kam mir darin immer vor wie unter dem kuppelförmigen Dach eines Tempels, doch statt Buntglas und Tageslicht besaßen wir nur Fackeln und Lagerfeuer. Es gab keine Zimmer, keine Türen in unserem Heim, wir schliefen alle Seite an Seite, stinkend und laut schnarchend.

      Ich konnte es kaum erwarten, endlich zurückzukehren und das große Feuer in der Mitte der Wolfshöhle zu entzünden. Kostja würde seinen berühmten Wildbret Eintopf für uns zubereiten, Corin würde uns mit seinen überheblichen Geschichten amüsieren, Lazlo würde blöde Scherze über einen jeden von uns machen, Egid würde ein Fass Met öffnen, Derrick und ich würden uns betrinken und zu guter Letzt würde ich mich in Connis weiblicher Wärme verlieren; denn das letzte Mal war schon einige Tage her und meine Körpermitte schrie nach Aufmerksamkeit.

      Doch meine warmen Erinnerungen an Zuhause wurden jäh zerstört, als ich und meine Brüder auf dem Trampelpfad zur Wolfshöhle frische Fußspuren im Schlamm entdeckten.

      Derrick und ich hielten unsere Pferde an und stiegen ab. Derrick nahm die Zügel meines Kleppers, während ich vor den zahlreichen Spuren in die Hocke ging.

      »Sie sind noch ganz frisch«, erkannte ich. »Nicht einmal einen Tag alt.«

      Ich erhob mich wieder und sah den Weg entlang, erst in Richtung Süden und dann nach Norden, wo wir hergekommen waren.

      »Sie führen zur Wolfshöhle und wieder zurück.«

      Ich sah Derrick ins Gesicht und las darin die gleiche Befürchtung, die auch ich hatte.

      »Da sind noch mehr Spuren«, sagte Lazlo und zeigte in den Wald, er saß noch auf seinem Pferd und wir mussten zu ihm aufsehen.

      »Muss ein großes Heer gewesen sein«, vermutete Egid.

      »Elkanasai?«, fragte unser naiver, junger Kostja voller Nervosität.

      Unser vorübergehender Neuzugang Janek mischte sich ein und schüttelte den Kopf: »Nein, die Fußabdrücke sind zu groß für Elkanasai. Und zu tief. Es müssen schwere Männer gewesen sein ... in sehr schwerer Panzerung.«

      Da hatte er nicht Unrecht. Meine Stimmung sank immer mehr. Ich hatte mich auf mein Zuhause gefreut, jetzt schwante mir Böses.

      »Wenn es keine Elkanasai waren«, fragte Kostja ängstlich, »wer war es dann?«

      »Jemand viel, viel Schlimmeres«, gab ich zurück.

      Meine Männer starrten mich neugierig an, doch ich erwiderte ihre Blicke nicht. Meine Brust zog sich zusammen und mein Herz wurde schwer. Eine Vorahnung schlich sich in mich, die sich in Panik verwandelte. Ich sah erneut Derrick an.

      Im stummen Einverständnis nickten wir uns zu und stiegen wieder auf unsere Pferde.

      »Vorwärts!«, rief ich laut, damit meine sechsundsiebzig Schattenwölfe – und Janek – mich auch alle hörten.

      Schwere Pferdehufe donnerten über den Trampelpfad. Innerhalb kürzester Zeit legten wir das letzte Stück der Strecke zurück. Hinterher wünschte ich mir, wir wären nie wieder zurückgekehrt.

      »Nein!«, hauchte ich entsetzt, als ich unser Zuhause erreichte.

      Hinter mir