Das Bewusstsein ist hierbei die zentrale Kraft für die Konstruktion von Wissen und Wirklichkeit, was jedoch nicht bedeutet, dass es sich um einen rein subjektiven, nur auf eigenen Erfahrungen basierenden Akt handelt. Vielmehr stammt der Großteil des Wissensschatzes an Erfahrungen, auf den das Subjekt zurückgreift, von anderen, ist sozial abgeleitet. Der zentrale Ort ist hierbei die Lebenswelt des Alltags, in der sozusagen nicht nur gedacht, sondern auch gemacht wird und jeder somit aktiv an der Konstruktion der Welt partizipiert. Die eigene Handlung ist dabei in ihrer Bedeutung immer auf ein Alter Ego bezogen, wobei das sozial abgeleitete Wissen erst Verständigung ermöglicht, ohne jedoch in sich völlig logisch oder widerspruchsfrei sein zu müssen. Die Sprache stellt in diesem Prozess zwar die wichtigste Ausdrucksform des Wissens dar, wird aber ergänzt durch andere nonverbale Zeichen der Vermittlung von Bedeutung. Die soziale Ableitung des Wissens findet ihren Ausdruck im kollektiven Wissensvorrat, der jedoch mehr ist als die bloße Summe seiner subjektiven Gegenspieler, da er durch die Struktur einer Gesellschaft mitgeprägt, jedoch nicht vollends vorherbestimmt wird (ebd., 142 ff.).
Der mittlerweile zum Klassiker avancierte namensgebende Slogan von der „social construction of reality“ von Berger / Luckmann schließt unmittelbar an Schützs Phänomenologie an, verquickt diese jedoch u.a. mit Elementen der verstehenden Soziologie Webers und der deutschen Wissenssoziologie und sorgt somit nicht nur für eine Renaissance letzterer, sondern etabliert auch die Vorstellung und Theorie des Sozialkonstruktivismus (ebd., 153). Für Berger / Luckmann wäre die menschliche Existenz „würde sie zurückgeworfen auf ihre rein organischen Hilfsmittel, ein Dasein im Chaos“ (1969, 55). Zur Errichtung einer stabilen Ordnung konstruieren Subjekte in alltäglichen Interaktionen die soziale Wirklichkeit, wobei dem „Typus sozialen Handelns von Angesicht zu Angesicht […] als Fundament aller historischen Gesellschaften“ (Schnettler 2006, 174) ein besonderes Gewicht zukommt. Durch regelmäßige Wiederholung dieser Externalisierungen werden die Produkte ihres Handelns objektiviert, sie bekommen eine unabhängige Dimension, eine eigenständige Faktizität in Form von verfestigten Deutungsmustern, Habitualisierungen und Institutionen. Diese Objektivierungen wirken durch Internalisierung wiederum auf das Individuum zurück (ebd., 172.ff.).
Der Mensch ist dabei Ausgangspunkt und letztlich Empfänger intersubjektiv geteilten Sinns, „der Mensch produziert sich selbst“ (Berger / Luckmann 1969, 52). Die darin zum Ausdruck kommende Dualität von Handlung und Struktur formulieren sie wie folgt: „Gesellschaft ist ein menschliches Produkt. Gesellschaft ist objektive Wirklichkeit. Der Mensch ist ein gesellschaftliches Produkt“ (ebd., 65). Daraus entsteht „eine Theorie der sozialen Konstruktion von Deutungs- und Handlungswissen, das gesellschaftlich institutionalisiert und in Sozialisationsprozessen an Individuen vermittelt wird“ (Keller 2008, 41). Eben diese Dualität von Struktur stellt die Brücke zwischen Interaktionismus und Strukturalismus in Form der Wissenssoziologischen Diskursanalyse dar.
2.4.3 Der Mensch produziert sich selbst oder das Ende des Menschen?
Trotz dieser Bücke existieren über den Prozess sozialer Fixierung objektiven Wissens im „konstruktivistischen“ Lager grundlegende Differenzen. Im Zentrum dieser Differenzen steht nicht nur die mittlerweile überkommene Frage von Basis und Überbau, sondern der Mensch als Produkt oder Akteur der ihm bedeutsamen Welt. Die Frage der Verortung des Menschen zwischen Handlung und Struktur ist die zentrale Scheidelinie strukturalistischer oder interaktionistischer Vorstellungen zur Konstruktion von Wirklichkeit.
Berger / Luckmann verlagern in ihrer „sozialen Konstruktion der Wirklichkeit“ (1969) den primären Prozess der Wirklichkeitskonstruktion in die Alltagswelt, denn ohne das „Allerweltswissen“ gäbe es „keine menschliche Gesellschaft“ (ebd., 16). Experten- und Spezialwissen spielt für sie gerade keine Rolle. Ihre Kernfrage lautete: „Wie ist es möglich, dass subjektiv gemeinter Sinn zu objektiver Faktizität wird?“ (ebd., 20). Der fundamentale Widerspruch zwischen dieser phänomenologisch-interpretativen Handlungstheorie und einer (post-)strukturalistischen Diskurstheorie ist der Fokus der Analyse und die Verortung und Definition des Subjekts. Eine von Foucault inspirierte Diskurstheorie setzt nicht bei den handelnden Subjekten an, sondern bei den überindividuellen diskursiven Strukturen, die nicht nur eine beliebige Summe an Aussagen darstellen, sondern eine Regelhaftigkeit aufweisen, die das Subjekt in seinen Handlungs- und Entscheidungsbedingungen (vor-)prägen.
Es handelt sich, wie Jürgen Link treffend formulierte, um eine „typische Henne-Ei-Problematik“ (Link 2005,79). Auch Berger / Luckmann gehen ja von einer externen „Mitbestimmung“ des Subjekts aus, durch, um in ihren Worten zu bleiben, „Internalisierung externalisierter Objektivierungen“. Jedoch scheinen sie, wie der Begriff der Externalisierung schon nahe legt, den Anfang dieses Prozesses in das Subjekt zu verlegen. Dies suggeriert „so etwas wie primäre, prädiskursive ‘personale Kerne‘, aus deren intersubjektiver ‘Externalisierung‘ allererst die Diskurse generiert würden“ (Link 2005,79). Diese „Prädiskursivität“ ist es, die im Widerspruch zur poststrukturalistischen Konzeption der diskursiven Konstruktion von Wirklichkeit steht und die die grundlegende erkenntnistheoretische Differenz beider „Wissenschaftslager“ darstellt. Während das Subjekt als Konstrukteur aus dem Chaos der Welt in Interaktion eine benötigte Ordnung macht, wird diese Ordnung im anderen Fall strukturell und überindividuell gemacht. Nach Foucault sind Diskurse „als Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen“ (Foucault 1988, 74). Diskurse werden folglich nicht von den sich in ihnen tummelnden „Subjekten“ und „Objekten“ geprägt, sie sind nicht nur Resultat oder Abbild, sondern die Quelle sozial konstruierter Wirklichkeit: „Diskurse produzieren, formen ihre Gegenstände, Objekte, indem sie entlang ‘machtvoller Regeln‘ über sie sprechen, und indem die jeweiligen diskursiven Praktiken bestimmen, was in welchem Diskurs gesprochen, was verschwiegen, was als wahr anerkannt und als falsch verworfen wird“ (Hirseland / Schneider 2001, 374).
Die dabei befürchtete strukturelle Determination und Degradierung des Subjekts zum vermeintlich reinen Spielball anonymer Kräfte wurde vielfach kritisiert. So monierte beispielhaft Jürgen Habermas Foucaults Wahrnehmung der Individuen „als die standardisierten Erzeugnisse einer Diskursformation – als gestanzte Einzelfälle“ (Habermas 1991, 343). Eine Kritik, die bei dem geschlossenen System des Strukturalismus sicher nicht unberechtigt war, jedoch im Poststrukturalismus durch Einbezug der (diskursiven) Praxis berücksichtigt und relativiert wurde. Nicht das „Ende des Menschen“ ist Programm, sondern die „Auflösung selbstverständlicher Identitäten“ (Geuss 2003, 152) und des Subjekts als rationalem, bewusstem Akteur humanistischer Prägung. Statt Diskurse im Sinne normativer Kategorien und ethischer Standards zu bewerten, geht es vielmehr darum, deren Struktur und Ordnung herauszuarbeiten. Das von Habermas ausgerufene Ideal des herrschaftsfreien Diskurses ist aus poststrukturalistischer Perspektive an sich ein Antagonismus. Diskurse üben immer Macht aus, sie wird, ähnlich der Internalisierung von Objektivierungen nach Berger / Luckmann, von den Subjekten verinnerlicht und die vom Diskurs betroffenen Subjekte sind nie gänzlich frei, autonom und rational.
Moebius (2005) wagt den Versuch, mit Hilfe der Diskurstheorie von Laclau / Mouffe und des Dekonstruktivismus von Derrida, handlungstheoretische und (post-)strukturalistische Prämissen zu einer erst mal paradox anmutenden „poststrukturalistischen Handlungstheorie“ zu verbinden. Das vermeintliche zu Grabe Tragen des Subjekts im (Post-)Strukturalismus betrachtet er als Verzerrung bzw. Fehlinterpretation. Im Kontrast zum geschlossenen, determinierenden System des Strukturalismus spielen das Subjekt und die Entscheidung im Poststrukturalismus sehr wohl eine („eigenständige“) Rolle, jedoch variiert diese Vorstellung von den gängigen neuzeitlichen Subjektbegriffen. Das Subjekt ist weder irrelevant noch bedeutungslos, es erfährt eine Neudefinition, die es nicht mehr aus sich