Finding Europe
Vorwort
Manchmal kann es so richtig blöd werden, wenn viele Leuten zusammenkommen: Stress, Ärger, Langeweile. „Schwarmdummheit“, so hat Gunter Dueck das in seinem genialen Vortrag während der re:publica genannt. Es geht aber auch anders mit krassneuen Erkenntnissen, spannenden Vorträgen und coole Diskussionen beim Bier. Das ist dann Schwarmintelligenz auf höchstem Niveau wie auf dem Station-Gelände in Kreuzberg. Der Sammelband des Readers, dem schnellsten Buch der Welt, erinnert an die Höhepunkte der drei Tage re:publica. Und damit das hier das kürzeste Vorwort aller Zeiten wird, ist schon Schluss. Viel Vergnügen beim Lesen, Stöbern und Erinnern.
Jörg Hunke @joerghunke,
Michaela Pfisterer @PfistererLive,
Melanie Reinsch @M_Reinsch,
Die Show beginnt
Die Show beginnt mit Nerds, Netzpolitik und dem Neuesten aus der Internetwelt. Seit Dienstagmorgen diskutieren zum neunten Mal mehr als 450 Redner auf der re:publica in Berlin über netzrelevante Themen. Das Motto dieses Jahr: Finding Europe. Erste Stimmen und Bilder bei uns im Video.
Finding Europe
Der Kampf mit den Zombies
Text: Jonas Rest @JonasRest
Die Konferenz beginnt mit Zombies. Mit den Themen, die wie Untote immer wieder hochpoppen seit die re:publica vor neun Jahren als Bloggertreffen mit einigen hundert Gleichgesinnten gestartet ist. Inzwischen ist sie zur wichtigste digitale Gesellschaftskonferenz in Deutschland geworden. Die immergleichen Zombie-Themen verfolgen die re:publica aber weiterhin. „Es ist ein bisschen wie bei bei Täglich grüßt das Miurmeltier“, sagte der Re:publica-Mitgründer und Netzaktivist Markus Beckedahl bei der Eröffnung.
Da ist etwa die anlasslose Massenüberwachung durch die Vorratsdatenspeicherung. Über die wurde schon auf der ersten re:publica diskutiert, erinnert Beckedahl. Das Bundesverfassungsgericht stoppte sie schließlich. Nun versucht die Bundesregierung sie unter neuem Namen wieder einzuführen - obwohl jeder Beleg der Wirksamkeit bei der Terror-Abwehr fehlt. „Unsere Eltern würden nicht akzeptieren, dass viele Wochen gespeichert wird, mit wem sie wann am Zaun geredet haben, wem sie beim Einkaufen getroffen haben oder mit wem sie beim Kaffeekränzchen zusammensaßen. Aber in der digitalen Welt soll das alles gespeichert und protokolliert werden.“ Beckedahl bekommt tosenden Beifall, als er fordert: „Wir brauchen einen Ausstieg aus der Totalüberwachung.“
Der nächste Zombie: Die Abschaffung der so genannten Netzneutraliät: So nennt man das Prinzip, nach dem alle Datenpakete gleichberechtigt durch das Internet geleitet werden. Ein Verbot von Überholspuren im Internet also, damit nicht alle gedrosselt werden, die sich die Maut-Spuren nicht leisten können. Gerade mal ein Jahr ist es her, dass es Netzaktivisten gelungen war, eine Kampagne aufzubauen, die letztlich das Europäische Parlament dazu brachte, mit überwältigender Mehrheit für klare Regeln zur Netzneutralität zu stimmen. Doch nun ist die Gefahr der Drosselung schon wieder auf dem Tisch. Die Bundesregierung hat auf Druck der Telekom-Konzerne beim EU-Rat durchgesetzt, dass über die Befürwortung der Netzneutralität durch das Europäische Parlamentes noch einmal verhandelt wird.
Markus Beckedahl; Foto: Yannic Hannebohn
Ein Ablauf, der auch zeigt: Sobald es um was geht, wird es es kompliziert - und entschieden wird meist auf EU-Ebene. „Die Rahmenbedingungen für das digitale Leben werden vor allem in Brüssel gemacht“, sagt Beckedahl. Auch deshalb heißt die Konferenz in diesem Jahr „Finding Europe“ - es geht auch darum, auf europäischer Ebene Gegenstrategien zu entwickeln.
Dabei gehe es längst nicht mehr um die Mobilisierung der vielzitierte Netzgemeinde, sagt Beckedahl später bei einem Vortrag, den er „Die Netzgemeinde ist am Ende” genannt hat. Ins Internet zu schreiben, wie es hier viele nennen, definiert keine Szene mehr - die ganze Gesellschaft schreibt inzwischen ins Internet, wenn sie Facebook, Instagram oder Whatsapp nutzt. 80 Prozent der Bevölkerung sei im Internet, sagt Beckedahl. „Die Netzgemeinde ist die Gesellschaft.“
Dass somit auch die Re:publica zur Gesellschaftskonferenz geworden ist, macht bei der Eröffnung Blogger- und Re:publica-Mitgründer Johnny Häusler deutlich. Er vergleicht die deutsche Mauer mit der Abschottung der europäischen Grenzen und sagt: „Wir sind wieder von Mauern umgeben.“ Mauern, die sehr viel weitläufiger und sehr viel höher seien - und tödlicher: „An diese Mauern sind in den letzten wenigen Jahren mehr Menschen gestorben als in den 28 Jahren an der deutschen Mauer.“ Der Unterschied sei aber auch: „Bis heute warten wir vergeblich auf Politikerinnen und Politiker , die den Abriss dieser Mauer fordern.“
Finding Europe
Wir laufen Gefahr abzustumpfen
Text: Melanie Reinsch @M_Reinsch
Fast täglich erreichen uns Nachrichten von ertrunkenen Flüchtlingen, von gekenterten Booten im Mittelmeer. Eine der schlimmsten Flüchtlingskatastrophen vor der lybischen Küste liegt gerade mal zwei Wochen zurück: Rund 800 Flüchtlinge überlebten die Fahrt über das Mittelmeer nicht.
In den ersten vier Monaten dieses Jahres kamen der Internationalen Organisation für Migration (IOM) zufolge 1780 Flüchtlinge ums Leben. Das Thema ist aktueller denn je und daher auch für die re:publica Anlass, gleich nach der Eröffnungsveranstaltung über Migrationspolitik und Willkommenskultur zu diskutieren und der Frage nachzugehen, was der Staat tut - und was er eben nicht tut.
„Wir gewöhnen uns an solche Nachrichten, das beunruhigt mich“, sagt Vassilis Tsianos von der Uni Hamburg. Tsianos engagiert sich im Bereich Grenzforschung. Obwohl er die Situation am Mittelmeer als eine der größten humanitären Katastrophen einschätzt, erkennt er doch eine Entwicklung in der Politik. „Das europäische Parlament verlangt jetzt Lösungen, man sieht ein Aufwachen eines europäischen Gewissens, da ist Potential vorhanden.“ Trotzdem müsse im Sommer mit weiteren Katastrophen gerechnet werden, glaubt er. Die Lage bleibt brisant.
Ferda Atamann, Politikwissenschaftlerin und Journalistin erkennt ebenfalls die Gefahr eines „Abstumpfungsprozesses“. Sie glaubt, dass das Thema in vier Wochen wieder vom Tisch sein kann, wenn der öffentliche Druck nicht groß genug ist. Sie ärgert sich vor allem die Diskussion um die Schlepperbanden, die Vizekanzler Siegmar Gabriel (SPD) bekämpfen will. Ihr Prognose: „Das Thema wird wichtiger werden, es wird weiterhin Widerstand geben und es ist nicht unwahrscheinlich, dass es mehr Tote geben wird. Da kommt noch einiges auf uns zu.“
Mohamad Al Ashrafani kam vor elf Monaten aus Syrien über den Libanon und die Türkei nach Deutschland. Auch er stößt hier in Deutschland an seine Grenzen, vor allem bei den Behörden. In Syrien hat er als Zahntechniker gearbeitet, nun absolviert er im Juni ein zweites Praktikum in einem Zahnlabor, lernt Deutsch und versucht in Berlin Arbeit zu bekommen. „Vor allem die Wohnungssuche gestaltet sich als schwierig“, sagt er. Und auch beim Asylantrag gibt es Probleme: Obwohl Asylanträge von Flüchtlingen aus Syrien und anderen extrem unsicheren Ländern schneller bearbeitet werden sollen, wartet Al Ashrafani schon seit acht Monaten auf eine Anhörung. Zu lang.
Genau solchen Menschen hilft Katharina Mühlbeyer. Sie arbeitet bei „Moabit hilft! Willkommensinitiative für Geflüchtete in Berlin-Moabit“, eine ehrenamtliche Kontakt- und Lotsengruppe für Flüchtlinge aus Syrien. Sie hilft Migranten durch das Behördenwirrwarr zu finden, unterstützt bei Arztterminen und setzt sich für die Rechte der Flüchtlinge ein. „Viele wissen über ihre Rechte nicht Bescheid. Die Behörden versagen, Menschen werden obdachlos, sie erhalten keine Grundversorgung, obwohl