In dieser Aufbruchsstimmung hat sich Bernard Vernier-Palliez 1975 zum neuen Unternehmensführer von Renault gemausert. In seinem ersten Jahr als Boss des Autoriesen musste Vernier-Palliez leibhaftig mit ansehen, wie der große Konkurrent Peugeot aus Socheaux die Gazetten und Magazine mit dem ersten Toursieg Bernard Thévenet’s dominierte und die Marke Renault in den Hintergrund schob. Thévenet fuhr seit Jahren für Peugeot. Das kann nicht sein, wird man sich in den Renault-Chefetagen gesagt haben und entschied sich für größere Investitionen in den Radsport. Ab 1976 hat man Cyrille Guimard, den umtriebigen Teammanager des Gitane- Teams, beauftragt, eine schlagkräftige Truppe zusammenzustellen und sofort einen Toursieger zu liefern. Möglichst einen französischen. Noch im gleichen Jahr gewinnt zwar ein Gitane-Mann die Tour. Aber der erwünschte Effekt verpufft, weil mit Lucien Van Impe ein Belgier gewann. Man muss wissen: Die Fahrradmarke Gitane gehörte seit 1974 zum Renault-Konzern und da wollte man mehr. Zwei Jahre später, im Jahre 1978, war Guimard mit Hinault so weit, dass dieser die Grand Boucle gewinnen konnte. Gerade zum richtigen Zeitpunkt, denn eine Nachricht schlägt wie eine Bombe ein: Vier Jahre nach der Übernahme von Citroen kauft Peugeot nun auch die europäischen Chrysler-Filialen auf. Mit einem Schlag ist Peugeot zum größten Automobilhersteller Europas aufgestiegen und hat sich eine Reihe von Automobilwerken in Frankreich, Großbritannien und Spanien einverleibt. Vernier-Palliez schmerzt diese Entwicklung, aber tröstet sich: Peugeot ist zwar größter Produzent des Landes, aber Renault soll mit Hinault die Tour de France gewinnen.
Bernard Vernier-Palliez war neben seinem Job bei Renault stark in die Politik Frankreichs eingebunden. Er war eng mit dem Staatspräsidenten Valéry Giscard d’Estaing befreundet, später auch mit dessen Nachfolger Francois Mitterrand und wurde nach seinem Abgang bei Renault 1985 französischer Botschafter in den USA und einer von Frankreichs Spitzendiplomaten. Vernier-Palliez hatte dank seines Jobs politische Beziehungen und bereits 1978 genügend Macht und Einfluss, um mitzubestimmen, wie der künftige Tour Sieger heißen soll. Und der Name des kleinen und unbedeutenden Belgiers Michel Pollentier passte nicht in die Profilierung einer gesamten Nation. Und weil Pollentier rein sportlich das Zeug hatte, die Tour tatsächlich zu gewinnen, musste dieser weg. Sofort –und egal wie.
Dieser Meinung war offensichtlich auch die Tourorganisation um Monsieur Felix Levitan, dem Napoleon aller Berufsradfahrer. An Levitans bemerkenswerter Geschäftstüchtigkeit hegt niemand, der mal mit ihm zu tun hatte, irgendeinen Zweifel. Er machte die Tour de France zum größten alljährlich stattfindenden Sportereignis und zu einem riesigen Werbemarkt. Und Levitan war dreist genug, um einen Handel und diabolischen Pakt mit Vernier-Palliez auszumachen.
Über Jahre waren die Dopingkontrollen mehr Last und Pflicht und viele Fahrer wurden zwar positiv getestet, aber Sanktionen wurden selten welche verhängt. Bis am 16. Juli 1978. Urplötzlich greifen diese bisher laschen Prüfungen und schnappen bei einem veritablen Toursieger zu. Bei einem, der die französische Suppe versalzen könnte und der diese Tour unter keinen Umständen gewinnen durfte. Ein damals aktiver Zeitzeuge, der in diesem Zusammenhang nicht mit Namen genannt werden möchte, stützt die Theorie eines Komplotts an Pollentier. Er bekräftigt, dass damals Manipulationen mit fremdem Urin dem Alltag eines Radprofis entsprachen: „Alle wussten was da läuft und wie mit Kondomen, Plastikfläschchen und ausgeklügelten Röhrchensystemen manipuliert wurde. Die Fahrer machten ausnahmslos mit und sowohl die Dopingkontrolleure als auch die Funktionäre wussten über die Vorgänge ganz genau Bescheid, schauten aber immer weg.“(8) Der gesamte Radsport war involviert. Auf die Frage, ob es möglich sei, dass Pollentier einem Komplott zum Opfer gefallen sei, antwortet der geheime Informant viel sagend, dass Pollentier nicht gewinnen durfte und aus diesem Grund aus dem Verkehr gezogen werden musste. Zudem könne er sich sehr gut vorstellen, dass sowohl die Tourorganisation als auch Sponsoren und andere Geldgeber in ein Komplott von diesem Ausmaß eingebunden waren.(8)
Wenn wir dieses Wissen haben, dann ist das der eigentliche Skandal der Tour de France 1978. Natürlich hat Pollentier gedopt. Natürlich hat Pollentier während der Dopingkontrolle betrogen.(9) Aber Pollentier hat nichts anderes gemacht, als damals alle anderen Rennfahrer der Tour auch gemacht haben. Ausgerechnet an seinem größten Tag griff das System von Begünstigung, Vetternwirtschaft und Nepotismus im Radsport. An diesem 16. Juli 1978 wurde Michel Pollentier auf dem Höhepunkt seines Sportlerlebens um den Sieg betrogen. Weil er zum falschen Zeitpunkt Leader der Tour de France war und ein anderer für Frankreich gewinnen musste.
Übrigens: Der Jahrgang der Tour 1978 gilt als der meist gedopteste der Geschichte. Über 50 % der Fahrer wurden im Laufe ihrer Karriere positiv getestet.(10)
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