Der rasierte Fisch. Gert Podszun. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gert Podszun
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847626831
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Halme, Gräser, Büsche und Bäume entgegen. Alles beschützt von einem blauen Himmel, dessen Wolken nach eben diesem Blau strebten. Der Traum flog mit der Träumerin in nicht gezählte Stunden nach oben in diesen Himmel. Und sie schaute in die Tiefe, als sei die Welt aus blauem Glase….

      Sie wird sich das Bild kaufen. Morgen. Komposition in Blau. Und sie wird ihre Sehnsucht annehmen. Sie wird sich zu ihrer Leidenschaft bekennen und bereit sein, sich ihren Gefühlen hinzugeben.

      Der blaue Traum nahm Elvira zu sich und saugte sie in sich auf wie ein Wirbelsturm, bis sie in dessen windstille Mitte gelangte.

       8

      Richard erlebte seinen ersten Abend alleine in Berlin. Einerseits spürte er eine gewisse Sättigung durch die Erlebnisse der letzten Stunden und Tage, besonders die Erinnerungen, die mit Jeannette in Zusammenhang zu bringen waren, andererseits drang eine unbändige Neugierde in ihn. Er würde gerne noch ein wenig in die Stadt gehen, aber ihn zog nichts dorthin, bis er auf seinem Spaziergang nach Hause einen Platz sah, den er von früher kannte. Ein Mann saß auf dem Trottoir am Rande des Platzes. An die noch warme Hauswand gelehnt. Er hielt einen Plastikbecher zwischen den verschmutzten Fingern. Neben ihm lag eine voll gestopfte Plastiktüte.

      Die Bedienung des spontan aufgesuchten Restaurants war freundlich. Sie sächselte. Sie trug die Uniform des Hauses. Getränk und Essen schmeckten. Richard war zufrieden. Ein weißes lang gestrecktes Auto (Car stretched) fuhr langsam vorbei. Ein Brautpaar winkte von drinnen. Wie Zirkus. Eine kostenlose Vorführung. Manche klatschten.

      Kostenlos war auch die Zeitung, die die Bedienung ihm auf den Tisch legte. Er würde später hineinschauen. Er fühlte sich überredet, noch ein wenig sitzen zu bleiben, noch etwas zu trinken und seinen Sinnen einfach Freiheit zum Einfühlen in die große Stadt zu gewähren.

      Babylonische Stimmen. Von oben fielen die Lichter der Werbung über ihn her. Das Aroma des Weines wurde aufsteigend mit Kohlenstoffdioxid geschwängert. Die nicht durch Kleidung abgedeckte Haut wurde mit Feinstaub angereichert. Seine Zunge streifte unbewusst, vielleicht selbstschützend, den Feinstaubanteil von den Lippen ab. Eine Frau mit einem grünen Hütchen hatte glänzende Lippen. Manche Frauen an den Nachbartischen schminkten sich die Lippen nach, nachdem sie Spuren von ihnen auf den Rändern der benutzten Gläser zurückgelassen hatten.

      In den Bädern dieser Drei-Millionen-Stadt lagern bestimmt vergessene Lippenstifte. Für jede neue Mode einer. Und in den Handtaschen. Und anderswo, in Taxen, in Handschuhfächern, in Mülleimern. Alle hatten oder haben nur den einen Zweck: einen Mund mit einer uneigenen Farbe zu versehen. Es gibt auch Männer, die die eigene Lippenfarbe verändern. Das soll attraktiv machen. Anziehend. Wie ein Magnet. Und dann schaut man auf die Lippen, in die Augen und auf den Busen.

      Berlin ist auch attraktiv. Sagt das Stadtmarketing. Welche Farbe würden Berlins Lippen tragen? Richard ließ sich einfach so in diese Gedanken hineinziehen. Er wollte jetzt die Farbe der Berliner Lippen sehen und die Wärme dieser Lippen spüren, in die Augen eintauchen und sich am städtischen Busen erfreuen.

      Das Grau des Alltagsgesichtes dieser Stadt wurde in die Untergangsfarbe des im Westen schwindenden Sonnenlichtes eingetaucht. Rhythmisch setzten Ampeln ein kräftigeres Rot in das Gesicht der Stadt. Wie Pickel. Die dunkelgrauen Straßendecken legten mit zunehmendem Sonnenuntergang schwarzes Maskara an und hoben dies in den Kronen der straßenrahmenden Bäume, die nach und nach ihr Grün aufgeben mussten. Die Stadt atmete schwer.

      In den Bienenstockhäusern wie in den Villen entlang der breiten Alleen waberte Atemluft wortloser Einsamkeit neben den spitzen Schreien kurzer Lust. Letzte Atemzüge sanken in die wärmespeichernden Häuserzeilen, zwischen die alten Baumgruppen in den Parkflächen, unter die Gleise der ratternden Metrowagen. Immer Gleiches? Hoffnung sollte aufsteigen. Damit es schöner weiter geht. So wie beim ersten Strahl der die Wolkendecke durchbrechenden Sonne.

      Von Sein und Hoffnung steht dann auch etwas in den Nachrichtenblättern, welche in der großen Stadt auch zur Nacht verteilt werden. Von den Plänen der Stadt steht da geschrieben. Und von der jungen Frau, die sie heute Morgen aus der Toilette des großen Kaufhauses getragen haben. Weggespritzt von den asphaltierten Wegen und der durchgesessenen Couch fernab elterlicher Fürsorge. Und von der Verfügbarkeit.

      Ihr Großmaul reißt die Stadt auf und protzt mit Kubikkilometern von bewältigtem Unrat, prahlt mit den Investitionen zeitlich begrenzten Engagements von global wirtschaftenden Konzernen, preist sich mit den Sopranstimmen gastierender Opernsänger für ein paar buntere Nächte, proklamiert die Rettung der obdachlosen Fixer, provoziert weitere Zuwanderungen von Arbeit- und Hilfe-Suchenden und pumpt sich Kapital für die nächste Legislaturperiode.

      Stille wohnt auch in der Stadt. Sie sitzt in der Haut eines alten Mannes. Dessen Zorn sitzt hinter einer dieser vielen Hausmauern. Er hat seine Augen auf das Fensterkreuz vor sich fixiert. Er lebt seit seiner Geburt in dieser Stadt. Wurde hier gesäugt. Hat gespielt, gelernt, gearbeitet, gezeugt und ist nun alleine und gekreuzigt an einen Stuhl. Das Grau der Straßen und Häuser, der Gardinen vor dem Fensterkreuz nagen an dem Mann. Seine Stimme ist in die Lärmnebel nach außen entwichen. Seine Augen verlieren sich in dem muffig-blühenden Grau. Er hört Stimmen in den Träumen, die Tage und Nächte begleiten. Die Zeit der Antworten ist erstickt. Die Hände greifen lahm nach Nahrung. Und die Haut atmet einen matten schleifenden Geruch aus. Der Zorn will diese Zeit nicht, die man nicht haben kann. Die einen hat. Setzt einen da oben hin in das graue Zimmer mit dem grauen Ausblick.

      Laut kreischen die Farben der kurzberockten Tänzerinnen über die breiten Straßen. Lippenstiftrote Lackröcke, leichte Lässigkeit tanzt in die Zeit der Stadt. Ein Wimpernschlag aus Glück fährt durch den Leib des jungen Weibes und fällt zwischen torkelnden Plastikfetzen in die Abflussrinne neben dem Trottoir.

      Es kreißt und modert, lockt und vertreibt, leuchtet und blendet in der Stadt. Aus den Flugzeugen, Bahnen, U-Bahn-Schächten und der Kanalisation, von den Türmen der Gotteshäuser fallen Nachrichten in die Straßenschluchten auf die Treibenden und Getriebenen. Mehr steht da, noch mehr. Und nicht immer genau hinsehen. Lieber auf die Karte des Restaurants.

      Richard schob seine Gedanken und die Zeitung mit den Nachrichten von sich und griff nach der Karte. Er fand einen chilenischen Rotwein und entschied sich für ein letztes Glas. Er würde danach zum Hotel gehen und den grauen Bettler und seine Bündel nicht beachten. Die Stadt würde bestimmt irgendwo ein Bett für den Bettler haben. Auf dem Weg zum Hotel dachte er an sein Ziel von morgen, den Start bei SignaTec.

      Seine kurzen Träume im Hotelbett ähnelten einem Abreißkalender. Aus den hohen Hallen einer Fabrik dröhnten die Maschinen nach Aufträgen, die Bildschirme der Computers schrieen Handlungsbedarf, die Heckleuchten der Fahrzeuge auf der nächtlichen Autobahn bildeten eine Nabelschnur von einer Stadt zur nächsten, die Zufahrtstraße wölbte sich auf, bildete bald eine Röhre, darüber die Bürgersteige. Die Lichter der Häuser fielen unter ihn. Das Gesicht eines wichtigen dicken Mannes schwebte vor ihm wie ein Luftballon und verband sich mit dem dunkler werdenden Grün der Alleebäume. Blitze zischten aus den Zweigen und erleuchteten knallrote Münder am Straßenrand. Riesige Müllautos schluckten den Straßenzug und Richard flog mit in ein abstürzendes Dunkel.

       9

      Am nächsten Morgen besuchte Richard seine neue Arbeitsstätte, die Firma SignaTec AG, um sich vor seinem offiziellen Arbeitsbeginn ein ergänzendes Bild über die Immobilenlage zu machen. Er beriet sich kurze Zeit mit der Mitarbeiterin der Immobilienabteilung. Sie erklärte die jeweiligen Lagen, Verkehrsanbindungen, Schulen und Einkaufsmöglichkeiten. Nach ein paar Stunden hatte Richard sich eine Übersicht über ein paar neue Objekte gemacht. Gleich danach informierte er Angelika telefonisch darüber.

      Bei diesem Gespräch stellte sich heraus, dass beiden die Wohnung in der Sybelstraße am besten gefiel. Jedes der Kinder würde ein eigenes Zimmer bekommen. Angelika hätte ein ruhiges Arbeitszimmer mit Erker und einem Kaminofen. Durch eine hohe Schiebetür – die Raumhöhen betragen drei Meter und fünfzig – gelangt man aus ihrem Zimmer in einen großzügig geschnittenen Essraum. Von dort durch eine weitere Schiebetür in den Wohnraum, von