Der rasierte Fisch. Gert Podszun. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gert Podszun
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847626831
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dass er alles zu vergessen haben würde, nicht daran denken durfte und trotzdem daran denken würde. Einen letzten gefühlten Eindruck trug er seitdem wie ein Paket mit sich: sie war ganz nahe zu ihm, aber dann doch an ihm vorbei gegangen. Der Duft ihres Körpers hatte ihn eingehüllt. Wie in einen süßen Nebel. Ein Nebel, der mit dem aufkeimenden Tageslicht rasch verfliegen sollte. Er verweilte damals noch eine kleine Weile in diesem Dunst.

      Ein erstes und letztes Mal war er davon eingefangen. Dachte er. Sie blieb damals im Bad. Vor etwa zehn Jahren. Er erinnerte sich an das Ende dieses gewesenen Morgens. Die leicht schleifenden Geräusche der Straßenbahnräder in den alten Schienen unmittelbar vor dem Haus, in dem sie wohnte, stiegen an der Häuserwand hoch in sein Ohr und mahnten ihn an die Zeit. Die Zeit der Fahrpläne, die manches Leben wie ein Gitternetz überziehen. Und an die Zeit der Arbeit, der Pläne für die Arbeit.

      Sie duschte bestimmt lange. Er wäre ihr gerne nachgegangen. Aber eine unsichtbare Hand drückte dergestalt gegen seine Brust, dass ihm der Atem auszugehen schien. So mächtig war die Kraft des gerade vergangenen Erlebnisses. Seine Hände verließen ihre bisher ohnmächtig hängenden Positionen an seinem Körper und kramten seine Kleidungsstücke zusammen. Die abgekühlten Finger nestelten die blind gefundenen Verschlüsse seiner Kleidungsstücke nahezu automatisch zusammen und griffen zuletzt nach der Krawatte. Er wusste in diesem Moment nicht genau, ob er sie selbst gekauft hatte oder ob sie ein Geschenk war. Etwas Endgültiges zwängte ihn durch die Ausgangstür. Sie wusste ja, dass er gehen würde.

      Die immer noch fremde Luft des Treppenhauses ummantelte ihn mit einem kratzigen Gefühl, welches sich erst legte, als die erste Ampel ihm mit ihrem Rot die Botschaft des Alltages sandte. Das war seine letzte Erinnerung an Berlin. Es war während der Stundentenzeit. Und ein tief sitzendes Gefühl! Mit Erdbeben.

      Er war nach dem Abschluss des Studiums auf der Suche nach beruflichen Aufgaben aus Berlin fort gegangen und hatte ein fahles Bild des Treppenhauses in sich mitgenommen. Schließlich war er in Bielefeld gelandet. Er, Richard Benn, war jetzt wieder auf dem Weg nach Berlin. Etwa zehn Jahre nach dem Erdbeben.

       2

      Richard Benn stand vor einem der Badezimmerspiegel im Hotelzimmer des Intercontinental in der Budapester Straße in Berlin und strich sich seinen blonden Schnauzbart mit Daumen und Zeigefinger. In seinem Kopf surrten noch die jüngsten Informationen der zuletzt gehörten Nachrichten aus der Wirtschaft über Steuerhinterziehungen, Leergeschäfte mit Derivaten, weit verteilter Gier und Verschiebungen von Verantwortlichkeiten. Richard gab sich kurz kritischen Gedanken hin. Fast jeder ist ein möglicher Steuerhinterzieher, Feind des Systems der so genannten Sozialen Marktwirtschaft und nutzt es doch für sich selbst. Ob arm oder reich. Der Mensch ist eine Gefahr für sich. Es gibt ja so viel Gier und Korruption. Sie gefährden das gesamte Wirtschaftssystem. Ich will da nicht mitmachen. Ich werde nicht so sein wie die anderen Manager.

      Im Spiegel sah Richard sich, den zukünftigen Marketing Manager der SignaTec AG, einem international arbeitenden Technologieunternehmen im IT-Bereich. Gegen eine ganze Schar von Mitbewerbern um diese Position hatte er sich durchgesetzt. Er hatte gewonnen. Er fühlte sich wohl wie ein Fisch im Wasser. Sein fachliches Wissen hatte er sich ohne jegliche Protektion und nur durch besondere Leistungen angeeignet und war stolz auf seine bisherigen Erfolge. Kein stützendes Netzwerk, dem er etwas schulden müsste. Er wollte seinen eigenen Stil beibehalten. Sollten doch die anderen Manager sein und handeln wie immer sie wollten! Er wollte dem aktuellen durch die Finanzkrise geschädigten Klischee von Managern nicht entsprechen.

      Als vor wenigen Tagen der Anruf aus Berlin gekommen war, hatte er gerade seiner Frau Angelika und den Kindern, Andrea und Julian, erklärt, dass sie vielleicht von zu Hause in Bielefeld nach Berlin umziehen würden. Dort habe er studiert und würde die Stadt kennen. Das sei vor über zehn Jahren gewesen. Nach diesem Anruf ging alles sehr schnell. Richard stimmte sich mit dem Chef der Personalberatungsgesellschaft, Dr. Willy Bladade, wegen der Flugverbindungen und eines letzten vorbereitenden Gespräches ab. Er rief seinen ehemaligen Studienkollegen Ernst Friedrich Peters, der auch seine Frau Angelika seit einem gemeinsamen Urlaub kannte, an und teilte ihm mit, dass er zu einem entscheidenden Vorstellungsgespräch nach Berlin müsse. Ernst Friedrich erkundigte sich nach dem genauen Zeitplan.

      „Das würde ja prima passen. Wir haben gerade an dem Tag Deines geplanten Besuches in Berlin eine Party geplant. Wenn es klappt, dann kommst Du mit Angelika zu uns und wir feiern zusammen.“

      „Ich wollte eigentlich alleine fliegen.“

      „Es ist besser, wenn Angelika mitkommt.“

      „Das hat der Personalberater auch gesagt. Manchmal wollen sie die Frau des Kandidaten sehen.“

      „Also, abgemacht! Wenn Du willst, seid Ihr mit auf der Party. Ihr könntet auch hier schlafen. Und – es wird einen Überraschungsgast geben.“

      Richard erinnerte sich gerne an die gemeinsame Studienzeit. Ernst Friedrich und er waren damals gemeinsam auf vielen der Studentenfeste gewesen. Da würde es sicher viel zu erzählen geben. Würde. Zunächst musste das entscheidende Vorstellungsgespräch stattfinden. Erfolgreich. Dr. Willy Bladade, Geschäftsführer der Personalagentur, traf sich mit Richard vor dem Gespräch bei der SignaTec AG im Foyer des Hotels Intercontinental. Richard hatte sich entschieden, nicht bei Ernst Friedrich zu übernachten, sondern mit Angelika in ein Hotel zu gehen. Sie würden im Erfolgsfalle noch über das Wochenende in Berlin bleiben. Dafür hatte Angelika ihre Freundin Gisela zu Hause als Babysitter eingeladen. Dr. Bladade gab Richard Benn noch einige letzte Hinweise vor dem entscheidenden Gespräch mit dem Vorstand.

      „Es ist gut, dass Ihre Frau mitgekommen ist. Ein separates Gespräch mit ihr wird wahrscheinlich nicht stattfinden. Trotzdem ist es gut, wenn der zuständige Vorstand weiß, dass Ihre Frau sich mit Ihrer beruflichen Entwicklung identifiziert. Diesen Vorstand, Ihren zukünftigen Chef, kenne ich schon seit einigen Jahren. Er orientiert sich in aller Regel nach meinen Empfehlungen. Prägen Sie sich bitte seinen Namen ein: Dr. Ferdinand Hartweich. Er ist ein alter Hase und seit einigen Jahren als Vorstand im Konzern. Technologisch ist er nicht unbedingt an vorderster Front, aber dafür hat er ja seine Leute.

      Und hier sollen Sie mit Ihren speziellen Kenntnissen über Fernüberwachungssysteme wirksam werden. Es gab bereits früher ein Projekt zu diesem Thema. Das war augenscheinlich nicht sehr erfolgreich. Jetzt wird es neu aufgelegt. Sie können dieses Projekt als Fachmann leiten. Und das ist oder wird kurzfristig eine Schlüsselfunktion im Konzern. Es passt zu Ihrer bisherigen beruflichen Entwicklung. Es gehört zu den strategischen Projekten des Konzerns und wird im Erfolgsfalle Ihrer Karriere gut tun.“

      Richard hatte während seines Studiums eine besondere Zusatzausbildung für Fernüberwachungssysteme erfahren und kannte sich in dieser Welt besonders gut aus. Er war Spezialist auf diesem Gebiet.

      „Sie sind unser Mann.“

      Das war der entscheidende Satz aus dem Munde des Vorstandes, den sich Richard hier im Badezimmer des luxuriösen Hotels in der Budapester Straße wieder und wieder vorsagte. Er konnte stolz auf sich sein. Er ist als Marketing Manager bei der SignaTec eingestellt worden. Er strich sich mit den Fingern durchs Haar und kehrte in das großräumige Hotelzimmer zu seiner Frau Angelika zurück.

      „Wenn Du willst, können wir jetzt zu der Party gehen.“

      „Gut, gehen wir!“

       3

      Richard und Angelika trafen gleichzeitig mit zwei geladenen Paaren vor dem Hause seines Freundes ein. Sie ließen die beiden Paare vorgehen und schauten über deren Schultern in den großen Wohnraum der Beckers.

      „Herzlichen Glückwunsch! Du hast den neuen Job! Ich freue mich, dass Ihr kommen konntet. Kommt in meine Arme! Glückwunsch! Ich freue mich! Vielleicht habe ich sogar eine Überraschung. Mehr sage ich nicht. Es ist eine bemerkenswerte Frau, sage ich Dir!“

      Erst nach dieser Begrüßung von Richard ging Ernst Friedrich auf Angelika zu und nahm sie freundlich in den Arm.

      „Entschuldige,