Kapitel 3: Emotionsecho
Eric verschlief den Rest des Tages und wachte auf, als es bereits dunkel war. Sein Hals war trocken von der heißen, stickigen Luft im Schlafzimmer. Er ging im Dunkeln in die Küche, um dort nach Trinkbarem zu suchen. Durch die Ritzen der Jalousie schimmerte das Licht einer Straßenlaterne und warf dumpfe Schatten an die Wand. Ansonsten war die Wohnung in angenehme Dunkelheit gehüllt. Mit sicherem Griff holte Eric ein Glas aus dem Schrank und füllte es mit Leitungswasser. Er trank einen Schluck, spuckte das warme Wasser aber unverzüglich wieder aus. Er ging zum Kühlschrank hinüber, um Eis aus dem Gefrierfach zu holen. Als er die Tür schwungvoll öffnete, traf ihn ein stechender Schmerz. Er hatte das Gefühl, sein Kopf würde explodieren. Seine Augen brannten wie Feuer. Eric riss den Arm vors Gesicht, stieß mit dem Bein gegen den Stuhl und ließ sich darauf fallen. Das schwache Kühlschranklämpchen wäre für einen Normalsehenden gerade genug gewesen, nicht völlig im Dunkeln tappen zu müssen. Erics Augen aber traf es wie der gleißende Strahl elektrischer Blitze. Er griff nach dem erstbesten Gegenstand auf dem Tisch, der Espressomaschine, und schlug damit auf das Lämpchen ein, so lange, bis es zerbrach und mit einem dumpf klatschenden Geräusch erlosch. Derartige Missgeschicke trieben ihn jedes Mal zur Weißglut, gerade weil sie ihm, seit er laufen konnte, so regelmäßig passierten. Es dauerte eine Zeit, bis der Schmerz nachließ und er die Augen wieder öffnen konnte. Dass das Wasser warm war, kümmerte ihn nicht mehr, und er hatte es in wenigen Zügen ausgetrunken.
Eric fuhr hoch. Es hatte geklingelt. Auch wenn er niemanden erwartete, eilte er ins Schlafzimmer, warf einen Bademantel über und setzte die Sonnenbrille auf. Außer dem Reinigungsservice wusste niemand von seiner Rückkehr. Verwundert knipste Eric das Licht an und öffnete die Tür. Im Treppenhaus stand seine Nachbarin, Frau Oldenburg. Als sie Eric sah, klatschte sie freudig in die Hände.
„Herr Winter“, lachte sie, „habe ich es doch gewusst. Sie sind wieder da.“
Bevor er etwas erwidern konnte, huschte sie an ihm vorbei und ging in die Küche. Eric folgte ihr.
„Ich hatte befürchtet, Ihnen sei etwas zugestoßen“, fuhr sie besorgt fort, „warum haben Sie nie geschrieben oder angerufen? Aber macht ja nichts, Hauptsache, Sie sind wieder da, und wie ich feststelle, sehen Sie besser aus als je zuvor. Was ist mit Ihrer Nase passiert?“
Eric strich sich überrascht mit der Fingerspitze über die Nase. Als er die alte Narbe spürte, war er erleichtert.
„Nichts Nennenswertes“, beschwichtigte er, „beim Aufräumen ist mir ein Buch entgegengefallen. Möchten Sie Kaffee?“
Frau Oldenburg lebte allein in der unteren Wohnung. Maryanne und Eric hatten kaum Kontakt zu ihr gehabt, lediglich ein freundliches Hallo, wenn sie sich zufällig im Treppenhaus begegneten. Doch nach Maryannes Tod war Frau Oldenburg öfters hochgekommen, um nachzusehen, wie es Eric ging. Manchmal brachte sie Kuchen, Suppe oder kochte Kaffee, und jedes Mal hatte sie sich unaufgefordert in die Küche gesetzt und angefangen zu plaudern.
„Ich habe heute Nachmittag ein Taxi wegfahren sehen und danach hörte ich Geräusche in Ihrer Wohnung. Ich dachte, ich gehe einfach mal hoch und gucke nach. Kostet ja nichts. Und siehe da.“
Sie ließ Eric nicht aus den Augen und strahlte dabei übers ganze Gesicht. Sie war klein, zierlich und ziemlich alt, doch mit dem wallenden Haar, dem beinahe faltenlosen Gesicht und ihrem schnellen Mundwerk wirkte sie wie ein junges Mädchen. Sie lachte viel, eigentlich nach jedem Satz.
„Kaffee?“, fragte Eric abermals und holte verstohlen die Espressomaschine aus dem Kühlschrank.
„Sie haben nicht aufgegeben“, sagte Frau Oldenburg ernst.
Er wusste, worauf sie anspielte, und brauchte auch keine Antwort zu geben. Es war unmöglich, etwas vor Frau Oldenburg zu verbergen. Man hätte meinen können, sie verfügte über ein drittes Auge, mit dem sie Gedanken anderer Menschen las.
„Seien Sie vorsichtig“, warnte sie, „Ihre Rachegelüste fressen an Ihrer Seele und werden Sie früher oder später ins Unglück stürzen. Übrigens haben Sie vergessen, den Kühlschrank zu schließen.“
Eric drehte sich um und versetzte der Tür einen Tritt, dann stellte er zwei Tassen auf den Tisch.
„Ich habe gebetet, dass Sie darüber hinwegkommen und sich wichtigeren Dingen zuwenden würden. Aber ich sehe es Ihnen an, Sie sind nicht davon abzubringen. Warum widmen Sie sich nicht wieder Ihrer Arbeit? Das bringt Sie auf andere Gedanken. Ihre Autobahnbrücke in New Gisborne ist ein phänomenaler Erfolg. Architekten aus aller Welt pilgern in Scharen dorthin. Kürzlich war sogar ein Artikel darüber in der Zeitung. Ich habe ihn aufgehoben. Ich kann ihn morgen hochbringen, wenn Sie möchten. Es hieß darin, dass die Architektur der Neunziger Jahre durch Ihre Brücke einiges lernen kann. Sie wurden als Visionär bezeichnet.“
„Als Wegbereiter des kommenden neuen Jahrtausends“, unterbrach Eric. „Ich weiss, ich habe den Artikel gelesen.“
„Na also, Grund genug, Ihre Arbeit wieder aufzunehmen. Sie sind es der Welt schuldig.“ Frau Oldenburg schüttelte herablassend den Kopf. „Dass Sie diese Brücke ausgerechnet in New Gisborne bauen mussten, verstehe ich allerdings nicht. Was für ein langweiliges Kaff. Meine Schwester lebt dort in einem Altenheim. Hat sich gut angepasst. Wenn ich mit ihr einen Spaziergang raus auf die Felder mache, kann ich sie von der kargen Landschaft nicht unterscheiden. Genauso hart und vertrocknet wie der Boden, auf dem sie geht.“ Sie lachte. „Herr Winter, die Welt liegt Ihnen zu Füßen. Sie können Geschichte machen mit Ihren verrückten Brücken. Lassen Sie sich nicht von einem Verirrten kleinkriegen. Das nützt niemandem.“
Eric interessierte ihr Ratschlag nicht. Frau Oldenburg schwebte wie ein naiver Engel auf einer esoterischen Wolke, von der aus sie versuchte, sich in das Leben anderer zu mischen. Für jeden Seelenschmerz, jedes verwirrte Gefühl hielt sie ein Rezept parat. Gegen Angstzustände empfahl sie, sich eine farbige Plastikfolie unters Kopfkissen zu legen; gegen Eifersucht badete man in lauwarmem Wasser mit Rosmarinöl und stellte sich vor, wie man die Eifersucht übers Meer ruderte und auf einer einsamen Insel metertief im Sand begrub; um böse Geister zu besänftigen, hatte man ihnen ein Geschenk anzubieten, eine Scheibe Salami zum Beispiel auf einem frischen Salatblatt und mit einem Schuss Wodka. Diese ungewöhnlichen Methoden waren für Frau Oldenburg so selbstverständlich wie für andere Menschen das Wäsche aufhängen an einem sonnigen Vormittag.
Eric goss den dampfenden Kaffee in die Tassen. Frau Oldenburg lehnte sich in den Stuhl zurück und nahm schlürfend einen kräftigen Schluck, dann sagte sie: „Bevor ich es vergesse, in meiner Wohnung stapeln sich vier Schachteln voll mit Briefen. Aus Ihrem Briefkasten. Was sich in zwei Jahren an Papier ansammelt, ist unglaublich.“
„Was für Briefe?“, fragte er erstaunt. Den Briefkasten hatte der Reinigungsservice regelmäßig geleert und die Briefe an seinen Aufenthaltsort weitergeleitet.
„Ich habe sie nicht geöffnet.“
„An mich adressiert? Mit meinem Namen?“
„So ungefähr. An den Bewohner der Liegenschaft steht drauf. Aber von Hand geschrieben. Die Leute vom Reinigungsservice waren so was von arrogant. Sie behaupteten, es seien Werbebriefe, und warfen sie jedes Mal in den Mülleimer. Ich habe sie aber rausgefischt und für Sie aufbewahrt.“
„Besten Dank“, sagte