Otto W. Bringer
Imprint
GESICHTER
Otto W. Bringer
Alle Rechte bei Schillinger Verlag Freiburg
1. Auflage 2015 · ISBN 978-3-89155-394-7
Titelgestaltung vom Autor. Fotos vom Autor und aus Archiven, in harmonisierender Rasteroptik.
Gesamtherstellung: Schillinger Verlag Freiburg
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Tutenchamun, der junge König von Ägypten
Alles hat ein Gesicht
Städte, Landschaften. Der Mensch per se. Alle Lebewesen, Hund, Katze, Pferd. Wer einem Löwen ins Gesicht sieht, weiß was es heißt, einem Löwen ins Gesicht zu sehen. Zirkusartisten zum Beispiel. Oder Touristen auf der Fahrt durch die Savanne. Schwierig wird es, einer Lerche ins Gesicht zu blicken. Noch schwieriger einer Fliege. Obwohl die Augen groß sind, rund wie Kugeln. Von Gesicht aber keine Spur. Nur Augen. Am schwierigsten ist es, einem Floh ins Gesicht zu sehen. Die winzigen Punkte, die man mit der Lupe suchen muss, können auch Bisslöcher sein vom letzten Kampf mit dem Artgenossen. Vielleicht müssen Flöhe gar kein Gesicht haben. Mit Augen zu sehen.
Sie brauchen nur zu hüpfen und schon sind sie am Ziel. Irgendein Stückchen Haut wird es schon sein. Ihr Zuhause sind streunende Viecher, Menschenmassen in unordentlichen Verhältnissen. Ohne Wasser, ohne Seife. Einzig bisher bekannte Ausnahme der König in Goethes Gedicht. Trotz allmorgendliche kalter Dusche feudaler Nistplatz für ein großes Exemplar seiner Gattung. An was oder wen muss Johann Wolfgang wohl gedacht haben beim Schreiben. Jede einzelne Zeile dieses Gedichts im ‚Faust’ zeugt von Beißlust. Ludwig van Beethoven vertonte es mit gleichem Vergnügen. Hört:
„Es war einmal ein König, der hatte einen Floh. Er liebte ihn nicht wenig wie seinen eignen Sohn. Da rief er seinen Schneider, der misst dem Junker Kleider und misst ihm Hosen an. Und war sogleich Minister und hatt´ einen großen Stern. Da wurden seine Geschwister bei Hof auch große Herrn.“ Und so weiter, und so weiter, bis alle am Hofe zerstochen und zernagt waren. Alldieweil Bedienstete nicht tot knipsen durften, was ihr Herr und Gebieter liebte.
Hätte gern ihre Gesichter gesehen. Schade, dass es in diesen fernen Zeiten noch keine Paparazzi gab. Und Bildarchive. Kein zeichnerisches Genie bekannt vom Range eines Wilhelm Busch oder Tomi Ungerer. So müssen wir unsere Fantasie bemühen. Wie die Herren von Goethe und Beethoven seinerzeit.
Machen wir uns doch einfach ein Bild von uns selbst nach einem ärgerlichen Zwischenfall. Hat mich zum Beispiel ein Floh gestochen, der besagte Hafer oder ein liebloses Frauenzimmer beleidigt, blicke ich in den Spiegel. Entdecke ein Gesicht, das meines sein sollte, wie ich es kenne aus freundlicheren Tagen. Verzerrt von Wut und hilflosem Zorn. Nichts mehr vom liebenswürdigen Wesen, als das ich mich sah. Bin ich noch ich? Der Menschheit ganzer Jammer fasst mich an. Schon wieder bei Goethe? Nein bei mir. Höchste Zeit, nachzudenken.
Nicht nur lebende Wesen, auch Häuser haben ein Gesicht. Man nennt es Fassade. Nicht von ungefähr bezeichnet man auch das menschliche Gesicht als Fassade. Eine Fläche, hinter die man nicht blickt auf den ersten Blick. Die vortäuschen kann, was nicht ist. Oder nicht zeigen kann, was ist. Fröhliche Augenfenster lenken von tieftraurigen Gefühlen ab. Vorlautes Mundwerk überspielt vor Angst schlotternde Eingeweide. Das Lächeln in den Augenwinkeln ignoriert die Tränen in der Stimme. Oder böse Absichten.
À propos Fassade. Italiener sind Meister schöner Fassaden. Haben Gesichter wie du und ich, die verstecken oder offenbaren. Aber das, was jedermann in die Augen sticht, machen sie so schön sie können. Fassaden von Kirchen und Kathedralen sind Musterbeispiele der jeweiligen Kunstepoche. Aus weißem, roten oder grünen Marmor. Innen wahre Raumwunder. Die Palazzi des Adels nicht weniger prächtig. Sehen wir die Rückseiten, enttäuscht uns rohes Ziegelmauerwerk. Wie es drinnen aussieht vermuten wir.
Bei den Familien ist es umgekehrt. Ihre Häuser oder Wohnungen sind schlicht, unauffällig. Aber drinnen ist ihr Himmel. Schön wie sie es verstehen. Keramikboden, Edles aus Holz, Porzellan oder Glas. Die Werkstätten im Lande sind weltberühmt für ihre Kunst praktisches Gerät hinreißend schön zu gestalten. Manchmal überrascht uns hinter dem Torbogen ein Innenhof mit Palme oder Oleander. Feiern Italiener Hochzeit, Kindstaufe oder ein Jubiläum, wollen sie das größte, das schönste Fest aller Zeiten. Der ganze Clan, Nonno und Nonna, alle Bambini, Nachbarschaft, das ganze Dorf sind eingeladen. Reicht das Geld nicht, nehmen sie einen Kredit auf. Zahlen lange ab. Egal. Das schöne Gesicht kriegt man nirgends umsonst.
Frauen wissen das am besten. Liebäugeln mit der Alta Moda, der neusten Mode. Kaufen auch wenn es knapp wird Ende des Monats. Schön müssen sie sein. Selbst die Männer legen großen Wert auf ihr Erscheinungsbild. Herrenmode aus Italien ist genauso berühmt und begehrt wie die für das weibliche Geschlecht. Giorgio Armani, Prada oder Valentino klingende Namen. Lass es was kosten. Santa Barbara wird es richten. Oder der heilige Antonius oder ein anderer der heiligen Zunft. Hauptsache schön. Das Gesicht ist gewahrt, die Sehnsucht gestillt. Und sei es nur für einen Tag.
Eine Stadt, ein Platz, eine Wohnung, ein Buch, die Landschaft, alles hat ein Gesicht. Könnten wir es sonst wahrnehmen? Unser Gesicht braucht ein anderes, um sich selbst zu erkennen. Vergleichen, entdecken, widerspiegeln, was es bis dahin nicht berührte. Unsere Augen sind hungrig nach dem Anderen. Nach etwas, das noch keine Spur in