Das Essen war phantastisch. Zum Schluss spendierte der Wirt seinen wenigen Gästen Kaffee und Kuchen.
Zu Hause blinkte der Anrufbeantworter. Lisas Station.
»Ich muss morgen einspringen. Eine Kollegin ist krank geworden. Spätdienst.« Lisas Stimme klang gepresst. Eigentlich hatte sie sich auf ein paar freie Tage gefreut.
»Pass auf dich auf!« Irene musterte ihre Tochter. »Du bist viel zu blass. Und deine Kopfschmerzen, das kommt von zu viel Stress.«
Montag
Der Schulbus kam mit ein paar Minuten Verspätung. Marie konnte sich einen Platz sichern. Sie lehnte sich an das Fenster und schloss die Augen. Die ersten Stunden zogen sich. In Ethik sprachen sie über die Gefahr eines Krieges in Europa. In Kunst entwarfen sie Halloweenverkleidungen. Marie überkam Sehnsucht nach der Familie ihres Vaters. Den Spaß und die Lebensfreude ihrer amerikanischen Sippe. Sascha war nicht da. Ich bereite mich vor, hatte er ihr auf ihre Frage gesimst. »Du kommst spät.« Irene werkelte in der Küche. Eierpfannkuchen. »Ich esse doch keine Eier!« »Dann musst du dir selbst etwas kochen. Es ist total ungesund, wie du dich ernährst. Du bist doch noch im Wachstum.« »Mit siebzehn? Eher nicht. Was hast du da alles gekauft, ich esse so was nicht, dass weißt du doch.« Auf dem Küchentisch lagen Schokolade, Bonbons und Gummibären, daneben kleine Beutel. »Das ist für Halloween. Hilfst du mir später?« »Ich muss noch für Mathe lernen, tut mir leid.« Marie schlief schon, als ihre Mutter aus der Klinik kam. Lisa duschte nur kurz, bevor sie ins Bett fiel, auch am Dienstag sahen sie sich nicht. Als Marie am Mittwoch von der Schule heimkam, standen unzählige Tüten auf dem Tisch, Irene hatte Bonbons und einzelne, farbig sortierte Gummibärchen in jede gepackt. Dazu eine Rippe Schokolade. Fassungslos schaute Marie auf die Teile. »Sieht gut aus! Was meinst du? Ist alles abgezählt, ganz gerecht. Jede Tüte enthält gleich viele Drops, Bären, Bonbons und Schokolade! Du kannst auch für die Schule ein paar mitnehmen. Für deine Freunde!« »Das ist ekelhaft! Du hast jedes einzelne Teil mit der Hand angefasst! Denkst du, irgendjemand will angetatschte Süßigkeiten?!« Irene schaute sie entgeistert an. Ihre Gesichtsfarbe wechselte. »Ich habe meine Hände gewaschen!« Marie verließ die Küche. Sie wollte nicht streiten. Diese Tüten in der Schule. Hannahs Lachen konnte sie jetzt schon hören. Am Donnerstag setzte sie den Hexenhut auf. Unter dem Umhang trug sie schwarze Jeans und ein schwarzes T-Shirt. Sie schminkte sich weiße Lippen, passend zur Perücke. Die Beutel standen nicht mehr in der Küche. Irene ignorierte ihren Gruß. Lisa war schon weg. Frühdienst. Den Bus sah sie noch wegfahren, sonst kam er immer zu spät. Marie holte seufzend das Fahrrad aus dem Keller. Wenn sie sich beeilte, könnte sie es gerade so schaffen. Die meisten hatten Süßigkeiten mitgebracht. Fast alle waren kostümiert. Nach der großen Pause wollten sie die beste Verkleidung wählen. »Dein Psychofreund steht da hinten!« Hannah, die Elfe, grinste anzüglich. Sascha stand am Rand des Hofes, neben einer Eiche. Er fixierte sie mit fiebrig glänzenden Augen. Marie ging zu ihm. »Sie sind hier!« »Sascha, die haben sich nur verkleidet! Zombiewalk!« Marie winkte Timo, der mit einer Gruppe Oberstufenschüler an ihnen vorbeischlurfte. Sie waren bleich geschminkt. Einige hatten sich klaffende Wunden gemalt, andere trugen Kontaktlinsen. Ein paar jüngere Schüler filmten begeistert mit ihren Handys. Timo stellte sich stöhnend neben sie, er wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn und die kunstvoll aufgeklebte Wunde fiel hinunter. Sascha wich erschrocken einen Schritt zurück. Timo lächelte. »Verdammtes Zeug, das juckt vielleicht! Hast du wirklich gedacht die Wunde wäre echt?«, wandte er sich an Sascha. Der starrte ihn an und schüttelte langsam den Kopf. Timo hob das Teil vom Boden auf, wischte es vorsichtig ab und klebte es auf seine Wange. Hannah grinste und schlenderte in ihre Richtung. »Cool Timo, echt genial! Wenn ich sehe, wie andere einfach als Penner kommen, ohne sich zu verkleiden …« Timo lachte gutmütig. Hannah musterte Sascha. »Das glaube ich jetzt echt nicht! Du hast dir ein Beil umgeschnallt! Wie krank ist das denn? Wenn es ein Gag sein soll, müsste wenigstens Blut daran kleben!« Sascha begann zu zittern. Marie legte ihm die Hand auf die Schulter. »Lass dich nicht provozieren!« »Hast du Kevin schon gesehen?«, wandte sich Hannah an Timo. »Er war heut Morgen nicht da, aber Ismael ist vorhin an ihm vorbeigefahren, der sieht sowas von cool aus. Ah, dort hinten kommt er! Er ist auch Zombie! Eigentlich wollte er Footballer sein.« Kevin schlurfte einer Horde kreischender Siebtklässler hinterher. »Hey Kev! Ich bin hier!« Hannah lief zu ihrem Freund, sprang ihm regelrecht in die ausgestreckten Arme. Timo schaute ihr amüsiert hinterher. Das Gekreische auf dem Schulhof erstarb unter dem schrecklichen Schrei. Hannahs Kopf stand unnatürlich vom Rumpf ab. Um sie breitete sich ein roter See aus.
Hannah
Maries Hand schmerzte. Sascha presste ihre Finger zusammen.
»Lauf nicht hin! Er ist einer von ihnen. Siehst du es jetzt?« Seine Stimme klang hohl. Ringsumher Schreie und Menschen, die wie gelähmt herumstanden.
Kevin hob das Gesicht, schaute in ihre Richtung. Sein Mund war blutverschmiert. Marie zitterte. Die Zeit verging wie in Zeitlupe. Inzwischen hatten sich zwei seiner Freunde auf Kevin gestürzt. Einer riss ihn an den Haaren nach hinten, der andere warf ihm eine Jacke über den Kopf. Ein weiterer kümmerte sich um Hannah. Die, die den Tobenden hielten, schrien um Hilfe, da sie ihn kaum bändigen konnten.
Marie versuchte sich von Saschas erstaunlich kräftigem Griff loszureißen.
»Hey, lass mich, wenn du schon nicht anpacken willst!«
»Willst du gebissen werden? Du kannst nicht helfen und ich denke nicht im Traum daran!«
»Du bist so ein Feigling.«
»Ich bin nur kein Selbstmörder.«
Inzwischen waren bei den Jungen, die mit Kevin rangen, noch zwei weitere, die halfen, ihn am Boden zu halten. Auch ein Lehrer tauchte endlich auf. Er eilte mit einem Rot-Kreuz-Koffer zu Hannah. Aus der Ferne ertönten Sirenen. Eine Durchsage forderte die Schüler auf, ihre Klassenräume aufzusuchen.
»Du musst mit mir kommen.« Sascha versuchte sie hinter die Bäume, die den Schulhof umgaben, zu ziehen.
Marie riss sich los. »Ich will zu Hannah!«
Doch die Stelle wurde inzwischen von mehreren Lehrern abgeschirmt.
»Falls sie Zeugen suchen, geh auf keinen Fall hin!« Saschas Stimme klang beschwörend. »Die versuchen es unter Kontrolle zu halten, doch es ist zu spät. Sei vorsichtig, du weißt, wo du mich findest.«
Sascha hatte sich zurückgezogen, bevor eine Lehrerin sie erreichte, um sie aufzufordern nach hinten in das Gebäude zu gehen. In der Klasse herrschte bedrückende Stille. Wenige hatten das Drama direkt mitbekommen, doch jeder wusste inzwischen Bescheid. Der Mathematiklehrer betrat das Klassenzimmer, als erneut eine Durchsage ertönte. Alle, die den Vorfall auf dem Schulhof beobachtet hatten, wurden gebeten, sich in die Aula zu begeben. Marie zögerte, ihr Mäppchen rutschte hinunter. Während sie die Einzelteile auf dem Boden zusammensuchte, standen zwei ihrer Mitschüler auf und verließen den Raum. Sie sortierte ihre Stifte und blieb sitzen. Was hatte sie schon gesehen? Wenn sie befragt würde, müsste sie zugeben, dass Sascha, obwohl krankgemeldet, auch da gewesen war.
Die Stunde plätscherte dahin, auch der Lehrer konnte sich nicht auf seinen Stoff konzentrieren, als die Tür nach einem kurzen Klopfen geöffnet wurde. Ein Polizeibeamter betrat den Raum.
»Ihr habt sicher von dem Vorfall auf dem Schulhof gehört, bei dem eine Schülerin schwer verletzt wurde. Sie ist in der Klinik und wird notoperiert. Wir vermuten, dass der junge Mann unter dem Einfluss einer neuen Droge gehandelt hat. Eine Substanz, die Menschen psychisch sehr verändern kann. Ich muss alle bitten, sich an die Polizei oder einen Vertrauenslehrer zu wenden, falls ihr wisst, wer diese Drogen verteilt. Ebenso würden wir gern mit den Schülern reden, die in letzter Zeit zu Kevin Strauß Kontakt hatten.«
Marie machte sich klein. Was sie über Hannahs Freund wusste, ließ sie an der Drogenversion zweifeln. Er war wie sie im Sportleistungskurs und extrem gesundheitsbewusst. Freiwillig hätte er nie illegale Drogen genommen.
Hannah hatte den Angriff überlebt. Trotz des vielen Blutes. Der Polizist verabschiedete