Der Zauber von Regen. Liliana Dahlberg. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Liliana Dahlberg
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783737534710
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zog. Nadines Vater wurden damals viele verlockende und großzügige Angebote zum Verkauf des Pferdes unterbreitet, die er stets ausschlug.

      Doch dann geschah das Unvorhersehbare: Nadines Bianca erkrankte über Nacht an einer sehr ernsten Form der Kolik und starb. Nadine litt unglaublich unter dem Verlust ihrer Stute, aber sie gewann ihr Lachen langsam zurück. Denn sie erhielt von ihrem Vater, der stark mit ihr mitfühlte, an ihrem nächsten Geburtstag ein großes Geschenk: ein anderes Pferd. Es war ein prachtvoller schwarzer und zutraulicher Hengst. Ein reinrassiger Araber. Nadine taufte ihn liebevoll auf den Namen »Blacky«. Er wurde schon bald zu ihrem treuen Wegbegleiter, und Nadine durfte wieder die Freude und das Glück erleben, das sie glaubte, nach dem Tod von Bianca verloren zu haben.

      Nadines Mutter verbrachte die meiste Zeit in New York und kam nur selten auf die Insel. Dass sie beruflich bereits früh im Ausland gearbeitet und sogar an Wochenenden häufig am Frühstückstisch gefehlt hatte, störte Nadine nur anfangs. Schnell gewöhnte sie sich an diesen Umstand, der eine Art stillschweigendes Arrangement der Familie Hansen war. Die nötige Nestwärme bekam sie von ihrem Vater, und so reifte sie zu einer starken Frau heran, die sich Herausforderungen stellte und mit einer großen Neugierde durchs Leben ging. Sie wurde zu einer attraktiven Frau, die die Blicke der Männer auf sich zog und sehr umschwärmt war. Ihr Vater sagte immer, dass sie von Kindesbeinen an von Tag zu Tag schöner geworden sei. Das stimmte auch. Sie war groß und schlank, ihre Augen waren von einem wunderbaren Blau, und ihr Haar, das ihr in blonden Locken fast bis zur Taille reichte, ließ sie engelhaft erscheinen. Außerdem hatte sie ein charmantes Lächeln, das bezaubernd wirkte. Man konnte ihr nur schwer einen Wunsch abschlagen. Sie besaß noch dazu einen netten und aufrichtigen Charakter, den viele an ihr schätzten.

      Das änderte aber nichts daran, dass sie zu ihrer Mutter Rita nie eine enge Bindung aufbauen konnte. Nadine glaubte, dass sie zeitlebens eine gewisse Distanz zu ihr wahrte. Noch ein weiterer Unterschied zeigte sich am Mutter-Tochter-Verhältnis, im Gegensatz zu ihrer engen Beziehung zum Vater: Nadines Mutter teilte nicht die Begeisterung für Pferde von Vater und Tochter, und ihr war es auch nicht begreiflich, warum ihr Gatte das Gestüt in den Achtzigerjahren erworben hatte. Sie gewann sogar den Eindruck, dass er lieber der Pferdezucht nachging, als Zeit in ihre Ehe zu investieren. Sie war froh, als sie nach ihrer Laufbahn als Dolmetscherin in Brüssel die Chance erhielt, in New York zu arbeiten, und sie sich von Pferdegeruch und einem Ehemann befreien konnte, der des Öfteren, wie sie immer mit schnippischem Unterton sagte, vor Problemen »davonritt«. Dies war ganz bildlich gemeint, denn ihr Mann Bernd fuhr bei einem sich anbahnenden Ehestreit lieber zu einem seiner Pferde und verbrachte oft Stunden auf dessen Rücken in der Hoffnung, die Unstimmigkeiten lösten sich in Wohlgefallen auf, sobald er wieder festen Boden unter seinen Füßen hatte. Auch nach Streitgesprächen hielt ihn wenig in seinen eigenen vier Wänden, und er saß schon bald wieder im Sattel.

      Nadine ging es ebenso, wenn sie ein Problem zu wälzen hatte und im wahrsten Sinne des Wortes einen Perspektivwechsel brauchte.

      Dass sie aber an diesem Abend ihren Blacky aufsuchte und mit ihm die Flucht ergriff, hatte einen anderen Grund. Ihre Welt war aus den Angeln gehoben und Seiten aus ihrem Bilderbuchleben gerissen worden. Sie war verzweifelt.

      Mühevoll richtete sie sich auf und drückte ihr Gesicht gegen Blackys Kopf. Konnte er das Tränenmeer aufhalten und sie trösten? Es beruhigte Nadine ein wenig, dass sie seinen warmen Atem spürte, als sie ihm mit ihrer Hand über die Nüstern strich. Sie richtete schließlich ihren Blick gen Horizont. Viele Fragen tauchten in ihrem Kopf auf. Was war mit ihrer Liebe zu Tom, ihrem Verlobten, geschehen, von der sie glaubte, sie würde bis ans Ende ihrer Tage anhalten? Da waren wieder diese vielen Tränen, die sich den Weg aus ihren Augen über ihre Wangen bahnten und nicht enden wollten. Sie betrachtete den Goldring an ihrem Finger, mit dem Tom einst um ihre Hand angehalten und ihr ewige Liebe geschworen hatte. War der Tod dieser Liebe schleichend gekommen, ohne dass sie es zu spüren vermochte? Mit dem heutigen Abend war für sie mit einem Mal das enge Band zerschnitten worden, das sie verbunden hatte. Ein Band von Zuneigung und Hingabe.

      Sie blickte auf den sandigen Boden und sah eine große Muschel, die in der Mitte entzweit war. Nadine bückte sich und hob sie auf. Sie zitterte am ganzen Körper.

      Die beiden Teile schienen auch einmal zusammengehört zu haben, genau wie sie und ihr Verlobter. Doch das Meer hatte wohl andere Pläne mit ihnen und die beiden Stücke unnachgiebig auf dem Weg durch den Ozean getrennt und dann an Land gespült. Vielleicht würde sie eines Tages all das verstehen, was heute geschehen war. Denn wenn etwas zu Ende ging, begann dann nicht auch immer etwas aufregend Neues? Wer weiß, möglicherweise hatte jemand da draußen auch Pläne mit ihr, die mit Tom an ihrer Seite nicht realisierbar gewesen wären. Für sie war die Muschel von tiefer Symbolik. Sie umschloss sie fest und schaute dem Meer beim Spiel der Wellen von Kommen und Gehen am Ufer zu. Nadine fasste wieder etwas Mut und kam zu einem Entschluss. Sie zog schnell den Ring von ihrem Finger und warf diese Reliquie ihrer Liebe in die Wogen des Meeres.

      Sie schenkte ihnen etwas, was jetzt nicht mehr ihr gehörte.

      Nadine glaubte, dass sie ihre Emotionen widerspiegelten, so wie sie momentan hochschlugen und bei Ebbe doch wieder zu einem ruhigeren Fluss zurückfanden. Bald würde sie sicherlich wieder durch ruhigere Gewässer fahren und Kurs auf ein neues Ziel nehmen, das sie nur noch nicht kannte.

      Der starke Schmerz wich aber noch nicht vollends von ihr, und ihre Glieder waren von einer sonderbaren Schwere. Nadine stieg wieder in ihren Sattel und lenkte Blacky zurück auf das Gestüt ihres Vaters. Dort angekommen, führte sie ihn in seine Box. Nadine versorgte Blacky nach ihrem Ausritt gewissenhaft. Sie gab ihm einen Kuss auf seine weiche Schnauze, als sie ihn verließ, und war zufrieden, wieder etwas neue Kraft geschöpft zu haben, und glücklich, dass ihr treuester Weggefährte ihr in schweren Lebenslagen immer zur Seite stand.

      Sie war jedoch gehemmt, den Heimweg wieder anzutreten, denn ihre Wohnung in Westerland war Schauplatz des Geschehens gewesen, das ihre Welt einstürzen ließ. Tom hatte es gewagt, diese Frau auf ihrem Sofa zu lieben! Ihre Trauer ließ nun auch Platz für Groll, Ärger und richtige Wut, als sie sich ihrem Auto näherte, das auf dem Vorplatz des Gestüts geparkt war. Ihr Ehemann in spe wähnte sie noch auf der Arbeit und vergnügte sich ausgelassen mit dieser gewissen Veronika. Das Gefühl von tausend Nadelstichen, in das sie dieser Umstand versetzte, war kaum zu beschreiben. Erst glaubte sie, dass sie nicht mehr weiteratmen könnte und die Welt sich in diesem Moment aufhörte zu drehen. War sie in einem schlechten Film? Veronika war die Frau, mit der sie in einem Architekturbüro bisher erfolgreich zusammengearbeitet hatte. Sie beide gehörten zu einem vierköpfigen Team, nach dessen Zeichnungen und Entwürfen schon so manches Haus auf der Insel entstanden war. Geleitet wurde es von Lennart Petri, einem herausragenden Architekten mit großem Renommee. Er zeichnete für viele Bauten auf dem Festland und sogar in Berlin verantwortlich. Lennart Petri kannte Stärken und Schwächen seiner Mitarbeiter genau und wusste, wer sich von ihnen mit wem beim Arbeiten am besten ergänzte. Er war besonders von den Entwürfen zu Traumhäusern angetan, die Veronika und Nadine erstellten, und ließ beide eng zusammenarbeiten. Nadine glaubte, zu Veronika einen guten Kontakt aufgebaut zu haben, den sie für ihr Schaffen als unabdingbar hielt. Nachdem die beiden aus dem Büro spaziert waren, saßen sie noch oft in einem Restaurant beisammen und redeten über den Tag. Dass es folgenschwer war, ihr zu vertrauen, und sie den Fehler machte, Veronika mit unzähligen Gesprächen zu viel Einblick in ihr Privates zu gewähren, hatte sich am heutigen Abend erwiesen.

      Nadine hatte Veronika von ihrer Liebe zu einem Bankkaufmann, ihrem Verlobten, vorgeschwärmt, einem Mann, dessen Lächeln sie verzauberte und dessen Tiefe in der Stimme sie genauso liebte wie jene seiner Augen, die ihn so unergründlich erscheinen ließen. Es war für jedermann ganz offensichtlich, dass Nadine in den aufstrebenden Bankmanager hoffnungslos verliebt war.

      Veronika war dies auch aufgefallen, und doch konnte sie nicht anders, als sich Tom hinzugeben, denn die Liebe, die er ihr schenkte, besaß in ihren Augen eine ungeheure Sprengkraft und war von einem wunderbaren Zauber. Es schmeichelte ihr, dass dieser attraktive Mann, der so mondän und erfahren wirkte, sein Herz an sie verloren zu haben schien. So war sie es, die Nadines Liebe aufs Spiel setzte und diese wie ein Kartenhaus zusammenfallen ließ. Außerdem dachte sich Veronika wohl, dass sie ja auch nur eine Frau mit Sehnsüchten und Bedürfnissen