„Kunststück,“ befindet Corinna spitz, „bisher hattest Du nur Männer als Vorgesetzte.“
Dennoch; unübersehbar werden ihre Augen groß und glänzend. Am meisten ärgert sie sich wahrscheinlich über sich selbst. Lass sie ruhig ein wenig schmoren, denke ich und stelle den Blick auf Nichtsehen.
Frau Conrad schnappt beiläufig ihren leeren Teepott. Für sie scheint alles gesagt.
Corinna schluckt ein paar Mal und erklärt mit belegter Stimme:
„Okay, ihr zwei, für heute sind wir klar. Danke Robert, für dein Kommen. Vera, bringst Du ihn bitte nach unten.“
Sie beeilt sich, uns die Tür aufzuhalten.
„So dumm ist der Gedanke gar nicht. Dann viel Spaß ... ich meine Erfolg, beim gemeinsamen Coachen.“
Im Türrahmen kneift sie mir kräftig in den Po. Tatsächlich.
Frau Conrad geht mit schnellen Schritten voraus. Im Fahrstuhl wechseln wir nur wenige Worte. Erst am Drehkreuz in der Ausganghalle, als sie mir die Hand reicht, gebe ich mir einen kleinen Ruck.
„Vielen Dank für Ihre Bemerkung zum Thema Beziehung eben. Und falls Sie das Coachen wirklich wollen, rufen Sie mich an. Es tut bestimmt nicht weh. Tschüss, Frau Conrad.“
Sie lacht vergnügt.
„Das musste einfach gesagt werden. Es bleibt ja in der Familie.“
26
Mein Interesse für den Überfall auf Frau Dr. Neskovaja entfaltet eine unerfreuliche Nebenwirkung. Gleichgültig, ob ich am Schreibtisch einen Kundentext verfasse, unter der Kraftmaschine liegend Gewichte drücke oder am Herd in der Bratpfanne herumrühre; stets meldet sich der Gedanke: Es geht nicht voran, ich kann nichts tun.
Die Erinnerung an die kleinen Sticheleien zwischen Corinna und Frau Conrad gestern im Präsidium beschert mir zwar wiederholt ein inneres Grinsen. Es tröstet mich jedoch stets nur flüchtig über die Untätigkeit, zu der mich meine Lage als Hobby-Kriminalist zwingt. Nicht einmal meiner erschöpften Corinna kann ich etwas Gutes tun. Sie zu einem Abendspaziergang außer der Reihe überreden, allein oder am liebsten zu zweit ... vergiss es.
Na schön; hoffen wir, dass sich meine Hinweise für den Fortgang ihrer Ermittlungen als brauchbar erweisen.
*
Wenn ich allein bin, begleiten planlose Gedankenausflüge mein Mittagessen. Die sind seelenbekömmlicher als Dudelmusik oder überwiegend nichtssagende Meldungen und bedeutungslose Meinungen in den mittäglichen Radiosendungen.
Vera Conrad, wer hätte das gedacht: Sagt ihrer Chefin auf freundliche Weise ein paar unbequeme Wahrheiten ins Gesicht. Das gefällt mir. Mit der beiläufigen Bemerkung über Vertrauen hat sie ins Schwarze getroffen. Und Corinna hoffentlich ins Grübeln gebracht. Jedenfalls scheint sie ihrer Kollegin und mir bei passender Gelegenheit einen kleinen Beziehungsverrat zuzutrauen.
Wenn die wüsste.
Zum Glück habe ich Corinna nur das Nötigste von den Gefahren erzählt, denen ich in San Francisco ausgesetzt war. Brutal seitens der beiden Chinesen, die das Janey-Herzchen entführen wollten. Und hautnah durch Damen, die sich mit unterschiedlichen Vorzügen und Fähigkeiten um meine persönliche Sicherheit und mein Wohlergehen gekümmert haben; zugegeben unter nicht alltäglichen Umständen.
Aber hier geht es viel sittsamer zu; auch was Frau Conrad betrifft.
Coachen kann sinnvoll sein. Klar, dass ich so denken muss. Auch für eine Kriminalkommissarin. Vorausgesetzt, sie gerät an den richtigen Gesprächspartner, der Privates und Berufliches trennen kann.
Wenigstens ganz grundsätzlich.
Zum Bespiel ... an jemanden ... wie mich.
Coachen für Kriminalisten? Ohne selbst einer zu sein?
Genau deshalb.
Von der klassischen Gesprächstherapie halte ich nichts. Einsicht in vergangene Sünden hilft selten gegen ihre zukünftige Wiederholung.
Wissen und Erfahrungen werden im ganzen Körper gespeichert, nicht bloß im Kopf. Die Inhalte, sozusagen die technischen Details der Probleme, die mir Klienten vortragen, bleiben bei mir grundsätzlich links liegen. Statt dessen achte ich auf die Art, wie sie damit in Kopf und Körper umgehen. Wenn jemand eine Schwierigkeit wie eine Last mit sich herumträgt, interessiert mich die Körperhaltung der Person mehr als die Entstehungsgeschichte der Last. Und wenn ich ihnen vorführe, was der Kopf beim Denken und Sprechen alles tut, und wie leicht sich das verändern lässt, bleibt manchem Klienten – wie man so sagt – die Spucke weg.
Von meinen Coaching-Kunden lerne ich oft ebensoviel wie die von mir. Schon höre ich den Einwand: Was kann ich kriminalistischer Laie einer ausgebildeten und alltagserfahrenen Oberkommissarin an brauchbaren Denkanstößen vermitteln? Außer Sprüchen, die bestenfalls Heiterkeitswert haben?
Frau Conrads Lachen wäre die Zeit allemal wert.
Von meinem Können bin ich überzeugt.
Mein bewährtes Beobachtungs- und Denkwerkzeug reicht völlig.
Im richtigen Augenblick die Wortwahl der Kundin zerpflücken, sie auf eine ungewohnte Idee bringen, ihr bisher unbedachte Frage stellen; das bringt mehr als mit Fachausdrücken um sich werfen.
Nebenbei; ganz unbeleckt bin ich nicht, wenn es um den Umgang mit Straftaten geht. Mein Zusammentreffen mit der Polizei und mit privaten Sicherheitsleuten in San Francisco hat mir einige ihrer Denkmuster und Arbeitsverfahren nahegebracht. Insbesondere die Gespräche mit Belinda Carey, die mir das „FBI-Crime Classification Maunual“ geschenkt hat. Die kriminologischen Grundlagentexte darin sowie die zahlreichen, nüchtern beschriebenen Verbrechensbeispiele habe ich aufgesogen wie ein Schwamm.
Die wiederkehrende Befassung mit solchen Fällen birgt eine Gefahr. Man verliert den Sinn dafür, wie sehr jede Tat, ob Raub, Vergewaltigung, Mord oder Brandstiftung, in sich verschieden, letztlich einmalig ist. Den Zustand und die Spuren eines Tatorts zu erfassen, auszuwerten und das Ganze flugs in ein gedankliches Schubkästchen zu packen, reichen demnach nicht.
Was hat Täter und Opfer zusammengebracht? Sich in das Wesen und die Eigenheiten des Opfers zu versetzen, möglichst mit dem Kopf des Täters zu denken, sollten dazukommen. Das ist leichter gesagt als getan. Polizisten halten sich lieber an harte Tatsachen und misstrauen der Phantasie. Denn von dort ist es oft nur ein kurzer Schritt zu Vorurteilen und Selbsttäuschung. Hinzu kommt, die Abscheu vor dem verwerflichen Geschehen hindert viele Beamte daran, sich in den Täter hineinzudenken. Aus Sorge, man könnte seinen Lügen aufsitzen, sein Tun entschuldigen und ihn mit falscher Nachsicht betrachten. Oder gar ein wenig so werden wie er. In Wahrheit kommt es darauf an, den Täter zu verstehen, um ihn erkennen und überführen zu können.
Was für Belinda Carey unerlässlich war, ist keineswegs allgemein übliches Verhalten. Bei den „gewöhnlichen“ Polizisten noch weniger als bei Kriminalisten.
Mit Corinna über diese Denkweise zu diskutieren, habe ich mir abgewöhnt. Bei früheren Versuchen ist sie schnell einsilbig oder abwehrend geworden. Für sie zählen hauptsächlich Tatsachen und kriminaltechnische Befunde. Ich schätze, sie ist ziemlich gut in ihrer Arbeit, tut sich aber schwer, mit Abstand zu erklären, was sie intuitiv richtig macht.
Insgeheim dürfte auch die Scheu mitschwingen, über Dinge zu sprechen, die einen Bezug zu San Francisco haben. Diese Ecke unseres Tischtuchs ist in Corinnas Denken wohl dauerhaft angesengt.
*
Entgegen ihrer Gepflogenheit taucht Corinna am Freitag bereits gegen vier Uhr nachmittags im Heim unserer Wochenend-Familie auf.
„Sei ein Schatz und mach mir einen Pott Tee,“ dient ihr als Begrüßung. Ich komme gerade aus der Küche, sehe kopfschüttelnd zu, wie sie den Flur in Beschlag nimmt. Kaum hat sie die Wohnungstür geschlossen, fallen