Ströme meines Ozeans. Ole R. Börgdahl. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ole R. Börgdahl
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847621058
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Abendbrot haben wir einen schönen Dorsch mitnehmen können, aber dieser Fang war nichts gegen den Hai, den Monsieur Otoo angelockt hat. Er hat ein paar kleinere Fische zerteilt und sie neben das Boot ins Meer geworfen. Es hat nicht lange gedauert und wir sahen eine Flosse, die sich dem Boot näherte. Es war ein recht großer Hai, wie ich meine, aber Monsieur Otoo hat mir versichert, dass die richtig großen Exemplare nicht wegen der paar Fischabfälle kommen würden. Dann habe ich noch einige Schauergeschichten gehört, die ich am liebsten schnell wieder vergessen möchte. Der Hai hat uns einmal kurz sein Maul gezeigt und ich kann mir daher gut vorstellen, dass ein Biss sehr schmerzhaft sein muss.

      Papeete, 12. Februar 1898

      Ein besonderer Geburtstag für Victor, eine neue Zahl führt sein Alter an. Er ist jetzt vierzig. Vor tausend Jahren waren die Menschen mit zwanzig schon alt, vor hundert Jahren mit dreißig und jetzt? Nein, Victor ist nicht alt, er ist jung, wir machen ihn jung, wir halten ihn jung. Victor hat mir aber verboten, künftig nach seinen grauen Haaren zu schauen. Oh, ich glaube er wird eitel, ich muss jetzt schnell dreißig werden, damit uns wieder nur ein Jahrzehnt trennt.

      Papeete, 21. Februar 1898

      Vor fünf Tagen ist ein amerikanisches Kriegsschiff auf Kuba, im Hafen von Havanna, explodiert. Die Presse darüber hat uns recht schnell erreicht. Es wird von weit über zweihundert toten Matrosen berichtet. Auf Kuba gab es Aufstände, die sich gegen die spanische Herrschaft richteten. Natürlich ist es im Interesse der Amerikaner, wenn sich der spanische Einfluss auf Kuba verringert. Nach Victors Meinung würden die Vereinigten Staaten eine Unabhängigkeit Kubas nutzen, um dort selbst Einfluss zu nehmen. Was immer auch passiert ist und was die Ursache für die Explosion auf dem Kriegsschiff war, die Leidtragenden sind die vielen toten Männer.

      Papeete, 27. Februar 1898

      Es ist nicht zu glauben, was Victor mit nach Hause gebracht hat. Ich habe es erst gar nicht richtig wahrgenommen und als Victor dann vor mir stand ließ sich dieser kleine Affe auf seinen Schultern blicken. Ich habe mich richtig erschreckt. Das Tier hat einem Matrosen gehört, der im Hafen tot aufgefunden wurde. Der Affe hockte neben dem Toten, mit einem Seil gefesselt. Es ist schon traurig, aber warum hat Victor sich das Tier nur von den Gendarmen geben lassen. Er wollte es für die Kinder haben, einen Affen, wo sie doch noch so klein sind. Ich habe es sofort verboten und ich wollte auch nicht, dass die Mädchen den Affen zu sehen bekommen, denn dann wäre schnell eine andere Entscheidung getroffen worden. Victor musste also wieder zurück zur Gendarmerie. Ich hoffe nur es findet sich jemand, der den Affen nimmt. Das Tier tut mir schon leid, aber es geht eben nicht, nicht bei uns zu Hause.

      Papeete, 2. März 1898

      Die letzte Post war sehr umfangreich. Mutter hat wieder einiges aus der Presse der vergangenen Monate zusammengetragen. Es waren Artikel vornehmlich aus dem Figaro, über den Fall Dreyfus. Nach langer Zeit gibt es wieder Neuigkeiten. Der Figaro hat schon im letzten November die Dreyfus-Affäre wieder aufgegriffen. Ein Artikel von Monsieur Zola, der sich wieder als Journalist betätigt. Es ist sehr verwirrend, weil von Beweisen gesprochen wird, die am Ende doch gefälscht sein sollen oder deren Echtheit zu Recht angezweifelt werden kann. Niemand bekennt sich und niemand leugnet. Es ist sehr undurchsichtig. Es gibt auch einen neuen Verdächtigen, der Alfred Dreyfus in der Rolle des Vaterlandsverräters abzulösen scheint. Es handelt sich dabei um einen Major Esterházy. Mutter hat alles sauber ausgeschnitten und chronologisch geordnet. Der Figaro berichtete am 25. November und am 1. und 14. Dezember des letzten Jahres. Dann geht es gleich in diesem Jahr, am 7. Januar weiter. Dazwischen gibt es Artikel aus anderen Zeitungen. Der Höhepunkt scheint aber die Ausgabe des L'Aurore vom 13. Januar zu sein. Monsieur Zola hat hier einen Brief veröffentlicht, in dem er sich an unseren Staatspräsidenten wendet und den skandalösen Freispruch des Majors Esterházy anprangert, der sich längst selbst beschuldigt hat und sich seiner Strafe durch Flucht ins Ausland entziehen konnte. Ich wünsche Lucie Dreyfus nur, dass ihr Mann nun doch unschuldig ist. Bei diesen ernsten Gedanken hätte ich fast vergessen, dass Mutter mir auch etwas Heiteres geschickt hat, ein Büchlein. Es ist ein richtiges Theaterstück mit dem Titel »Cyrano de Bergerac«. Die Eltern waren über Weihnachten und Neujahr in Paris und haben die Uraufführung des Stücks in Saint-Martin gesehen. Irgendwie ist Vater dann an das gedruckte Werk gekommen, das es eigentlich noch gar nicht zu kaufen gibt.

      Papeete, 3. März 1898

      Ein Brief von Aliette war gestern auch bei der Post, ich habe ihn aber erst heute geöffnet. Schlimme Nachrichten. Der kleine Robert ist gestorben, es war kurz nach Weihnachten. Ich hatte schon viel früher mit Post von Aliette gerechnet, jetzt weiß ich, warum nichts kam. Was soll ich ihr schreiben, ich kann nichts schreiben, oder doch?

      Papeete, 17. März 1898

      Die Mädchen sind heute drei Jahre alt geworden, ihr dritter Geburtstag. Wir haben gefeiert, aber ich habe auch ein wenig an Aliette gedacht. Ich will für jeden Tag, nein für jede Stunde mit meinen beiden dankbar sein. Im Leben kann es nämlich auch anders kommen.

      Papeete, 31. März 1898

      Colonel Dubois gibt uns immer wieder ein Bild darüber, wie in Militärkreisen über den Fall Dreyfus gedacht wird. Sein letzter Brief ist recht aufschlussreich. Seit den Aufregungen zu Jahresbeginn sind die Vorbehalte gegen die Juden eher noch schlimmer geworden, weil es jetzt eindeutig zwei Lager gibt. Das eine für Dreyfus und das andere gegen Dreyfus. Bei den Gegnern findet sich dann ganz eindeutig die judenfeindliche Stimmung. Das Religionsdenken ist unvorstellbar schädlich und sollte keinen Eingang in einen modernen Staat finden, große Worte von Colonel Dubois.

      Papeete, 14. April 1898

      Anne hat geschrieben und ihrem Brief etwas ganz Besonderes beigefügt. Sie hat sich mit ihrem Baby fotografieren lassen. Anne sitzt im Atelier und hält ihre Marlène auf dem Arm. Die Kleine schaut sogar in Richtung des Fotoapparates. Ich finde es schön, Fotografien zu verschicken. Wir sollten auch eine Aufnahme von uns und den Mädchen machen lassen und sie nach Hause schicken. Warum habe ich noch nie daran gedacht.

      Moorea, 27. April 1898

      Die Jérôme hat vor zwei Tagen die ganze Familie Jasoline befördert. Wir sind im Urlaub auf Moorea, eine Woche lang. Victor hatte zwar an unserem Ankunftstag noch zwei Stunden in der Kommandantur zu tun, aber dann war auch er in den Ferien. Wir sind mit der Kutsche bis zur Opunohu-Bucht gefahren und dort in eine Herberge direkt am Strand eingezogen. Es gibt hier nur ein paar Dorfbewohner, die uns aber nicht stören. Damit dies auch so bleibt, hat Victor seine Uniform in Vaiare gelassen. Während ich diese Zeilen schreibe, spielt er mit den Mädchen am Strand. Ich sitze im Schatten und beobachte sie.

      Papeete, 10. Mai 1898

      Das Unglück der USS Maine im Hafen von Havanna fordert jetzt ein Nachspiel. Auf den Philippinen hat es Kämpfe gegeben. In den Zeitungen, die uns erreichen, wird von einer Seeschlacht berichtet, in der die Spanier unterlegen sind. Ich verstehe nur nicht, was die Philippinen mit Kuba zu tun haben, wo doch auf Kuba die Aggression begann, aber die Erklärung ist wohl einfach, es geht nicht gegen Kuba, sondern gegen Spanien. Ich habe mir dies alles in meinem Atlas angesehen. Kuba liegt direkt vor dem US-amerikanischen Kontinent, kein Wunder, dass die Amerikaner hier Begehrlichkeiten haben.

      Papeete, 23. Mai 1898

      Es ist merkwürdig, weil die Dinge nicht plötzlich geschehen, sondern weil es nach und nach kommt und man sich der Bedeutung nicht immer gleich bewusst ist. Thérèse und Julie haben erst gebrabbelt, was uns noch als Besonderheit vorkam. Dann hörte das Brabbeln nicht mehr auf und wir haben uns so sehr daran gewöhnt, dass wir gar nicht wahrgenommen haben, dass sie auch richtige Wörter sprechen. Wir haben ja schon recht früh immer etwas herausgehört. Aus Wörtern wurden Sätze, Fragen, Antworten, einfach alles. Es wird jeden Tag mehr und eines Tages sprechen Thérèse