Endlich verläßt der Hof den intimen Raum; Ludwig und Marie Antoinette bleiben zum erstenmal ehelich allein, und der Baldachin des Himmelbettes rauscht über ihnen nieder, brokatener Vorhang einer unsichtbaren Tragödie.
Geheimnis des Alkovens
In jenem Bette geschieht nun zunächst – nichts. Und es gibt einen höchst fatalen Doppelsinn, wenn der junge Ehemann am nächsten Morgen in sein Tagebuch schreibt: »Rien.« Weder die höfischen Zeremonieen noch die erzbischöfliche Segnung des bräutlichen Bettes haben Gewalt gehabt über eine peinliche Hemmung der Natur des Dauphin, matrimonium non consummatum est, die Hochzeit wurde im eigentlichen Sinne nicht vollzogen, nicht heute, nicht morgen und nicht in den nächsten Jahren. Marie Antoinette hat einen »nonchalant mari«, einen nachlässigen Gatten, gefunden, und zunächst meint man, es sei nur Schüchternheit, Unerfahrenheit oder eine »nature tardive« (wir würden heute sagen: eine infantile Zurückgebliebenheit), die den Sechzehnjährigen bei diesem bezaubernden jungen Mädchen unfähig macht. Nur nicht drängen und den seelisch Gehemmten beunruhigen, denkt die erfahrene Mutter und mahnt Antoinette, die eheliche Enttäuschung nicht schwer zu nehmen – »point d'humeur là-dessus« schreibt sie im Mai 1771 und empfiehlt ihrer Tochter »caresses, cajolis«, Zärtlichkeiten, Liebkosungen, aber anderseits wieder nicht zuviel davon: »Trop d'empressement gâterait le tout.« Als aber dieser Zustand schon ein Jahr, zwei Jahre andauert, beginnt die Kaiserin über diese »conduite si étrange« des jungen Gatten unruhig zu werden. An seinem guten Willen ist nicht zu zweifeln, denn von Monat zu Monat zeigt sich der Dauphin seiner anmutigen Gattin immer zärtlicher zugetan, er erneuert unablässig seine nächtlichen Besuche, seine untauglichen Versuche, aber an der letzten entscheidenden Zärtlichkeit hemmt ihn irgendein »maudit charme«, eine geheimnisvolle fatale Störung. Die unbelehrte Antoinette meint, dies sei nur »maladresse et jeunesse«, nur Ungeschicklichkeit und Jugend; in ihrer Unerfahrenheit stellt sie, die Arme, sogar selbst die »üblen Gerüchte, die hierzulande über seine Unfähigkeit umgehen«, in entschiedene Abrede. Aber nun steckt sich die Mutter hinter die Sache. Sie läßt ihren Hofarzt van Swieten kommen und berät sich mit ihm über die »froideur extraordinaire du Dauphin«. Der zuckt die Achseln. Wenn es einem jungen Mädchen von solchem Liebreiz nicht gelinge, den Dauphin zu erhitzen, sei jedes medizinische Heilmittel ohne Wirkung. Brief auf Brief schreibt Maria Theresia nach Paris; schließlich nimmt König Ludwig XV., wohlerfahren und allzu geübt auf diesem Gebiete, seinen Enkel ins Gebet; der französische Hofarzt Lassone wird eingeweiht, der traurige Liebesheld untersucht, und nun stellt sich heraus, daß diese Impotenz des Dauphin keine seelisch bedingte sei, sondern auf einem unbedeutenden organischen Defekt (einer Phimosis) beruhe. »Quien dice que el frenillo sujeta tanto et prepucio que no cede a la introduccion y causa un dolor vivo en el, por el qual se retrahe S. M. del impulso que conviniera. Quien supone que el dicho prepucio esta tan cerrado que no puede explayarse para la dilatacion de la punta o cabeza de la parte, en virtud de lo que no llegua la ereccion al punto de elasticidad necessaria.« (Geheimbericht des spanischen Gesandten.) Jetzt folgt Konsilium auf Konsilium, ob der Chirurg mit dem Operationsmesser eingreifen solle, – »pour lui rendre la voix«, wie man in den Vorzimmern zynisch flüstert. Auch Marie Antoinette, von ihren erfahrenen Freundinnen inzwischen aufgeklärt, tut das möglichste, ihren Gatten zur chirurgischen Kur zu veranlassen. (»Je travaille à le déterminer à la petite opération, dont on a déjà parlé et que je crois nécessaire«; 1775 an ihre Mutter.) Aber Ludwig XVI. – der Dauphin ist inzwischen zwar schon König geworden, doch nach fünf Jahren noch immer kein Ehemann – kann sich, seinem schwankenden Charakter gemäß, zu keiner energischen Tat entschließen. Er zaudert und zögert, versucht und versucht, und diese gräßliche, widerliche, lächerliche Situation des ewigen Versuchens und ewigen Versagens zieht sich zur Schmach Marie Antoinettes, zum Hohn des ganzen Hofes, zur Wut Maria Theresias, zur Erniedrigung Ludwigs XVI. noch zwei weitere Jahre hin, im ganzen also sieben entsetzliche Jahre, bis schließlich Kaiser Joseph eigens nach Paris reist, um seinen nicht sehr mutigen Schwager zur Operation zu überreden. Dann erst gelingt es diesem traurigen Cäsar der Liebe, den Rubikon glücklich zu überschreiten. Aber das seelische Reich, das er endlich erobert, ist schon verwüstet durch diese sieben Jahre lächerlichen Kampfes, durch diese zweitausend Nächte, in denen Marie Antoinette als Frau und Gattin die äußerste Erniedrigung ihres Geschlechts erlitten hat.
Wäre es nicht zu vermeiden gewesen (fragt vielleicht manches empfindsame Gemüt), an dies heikle und heiligste Geheimnis des Alkovens zu rühren? Hätte es nicht genügt, die Tatsache des königlichen Versagens bis zur Unkenntlichkeit zu verschatten, zaghaft an der Tragödie des Ehebetts vorbeizuschleichen, bestenfalls verblümt vom »fehlenden Glück der Mütterlichkeit« zu munkeln? Ist wirklich die Betonung solch intimster Einzelheiten unentbehrlich für eine charakterologische Darstellung? Jawohl, sie ist unentbehrlich, denn alle die Spannungen, Abhängigkeiten, Hörigkeiten und Feindseligkeiten, die sich allmählich zwischen dem König und der Königin, den Thronanwärtern und dem Hof herausbilden und weit ins Weltgeschichtliche hinüberreichen, sie bleiben unverständlich, wenn man nicht offenherzig an ihren eigentlichen Ursprung herangeht. Mehr weltgeschichtliche Folgeerscheinungen, als man gemeinhin zuzugeben gewillt ist, haben im Alkoven und hinter den Baldachinen der Königsbetten ihren Anfang genommen; kaum in irgendeinem andern Falle aber liegt die logische Kette zwischen privatestem Anlaß und politisch-welthistorischer Auswirkung so eindeutig offen wie bei dieser intimen Tragikomödie, und jede charakterologische Darstellung bleibt unehrlich, die ein Geschehnis in den Schatten drückt, das Marie Antoinette selbst den »article essentiel«, den Hauptpunkt ihrer Sorgen und Erwartungen, genannt hat. Und dann: Deckt man wirklich ein Geheimnis auf, wenn man frei und ehrlich von der langjährigen ehelichen Unfähigkeit Ludwigs XVI. spricht? Durchaus nicht. Nur das neunzehnte Jahrhundert mit seiner krankhaften moralischen Sexualprüderie hat ein Nolimetangere aus jeder unbefangenen Erörterung physiologischer Verhältnisse gemacht. Im achtzehnten Jahrhundert aber, wie in allen früheren, galt Ehefähigkeit oder Eheunfähigkeit eines Königs, Fruchtbarkeit oder Unfruchtbarkeit einer Königin nicht als private, sondern als politische und Staatsangelegenheit, weil sie die »Erbfolge« und damit das Schicksal des ganzen Landes entschied; das Bett gehörte so offenkundig mit zum menschlichen Dasein wie das Taufbecken oder der Sarg. In dem Briefwechsel Maria Theresias und Marie Antoinettes, der immerhin durch die Hand des Staatsarchivars und des Kopisten ging, sprachen damals eine Kaiserin von Österreich und eine Königin von Frankreich in voller Freiheit über alle Einzelheiten und Mißgeschicke dieses sonderbaren Ehestandes. Beredt schildert Maria Theresia der Tochter die Vorteile des gemeinsamen Bettes und gibt kleine weibliche Winke, jede Gelegenheit zu intimer Vereinigung geschickt auszunutzen; die Tochter wiederum berichtet das Eintreffen oder Nichteintreffen des monatlichen Unwohlseins, das Versagen des Gatten, jedes »un petit mieux«, und schließlich triumphierend die Schwangerschaft. Einmal wird sogar der Komponist der Iphigenie, wird sogar Gluck, weil er früher abreist als der Kurier, mit der Übermittlung solcher intimer Neuigkeit betraut: im achtzehnten Jahrhundert nimmt man natürliche Dinge noch völlig natürlich.
Aber wäre es nur die Mutter allein, die damals um jenes heimliche Versagen weiß! In Wirklichkeit schwatzen alle Kammerfrauen davon, alle Hofdamen, Kavaliere und Offiziere; die Diener wissen es und die Wäscherinnen am Hofe von Versailles, sogar an seinem eigenen Tisch muß der König manchen derben Scherz erdulden. Außerdem befassen sich, da die Zeugungsfähigkeit eines Bourbonen in Anbetracht der Erbfolge eine hochpolitische Angelegenheit darstellt, alle auswärtigen Höfe auf das eindringlichste mit dieser Frage. In den Berichten des preußischen, des sächsischen, des sardinischen Gesandten finden sich ausführliche Erörterungen der heiklen Angelegenheit; der eifrigste unter ihnen, Graf Aranda, der spanische Gesandte, läßt sogar die Laken des königlichen Bettes durch bestochene Dienstleute untersuchen, um jenem physiologischen Ereignis nur möglichst genau auf die Spur zu kommen. Überall in ganz Europa lachen und spotten Fürsten und Könige brieflich und mündlich über ihren ungeschickten Standesgenossen; nicht nur in Versailles, sondern in ganz Paris und Frankreich ist die eheliche Blamage des Königs das Geheimnis Polichinells. Sie wird in allen Straßen besprochen, sie flattert als Libell von Hand zu Hand, und bei der Ernennung des Ministers Maurepas zirkuliert zur allgemeinen Erheiterung das muntere Couplet: