„Ach, Steffi...“, murmelte Fabian, „die klebt immer mit ihrer Nase auf dem Papier.“
Natürlich, dachte ich. Steffi war schließlich jedes Mal hochkonzentriert bei der Arbeit, wenn ein Test anstand. Mit affenartiger Geschwindigkeit schrieb sie ihre perfekten Antworten runter, als würden sie ihr per MP3-Player direkt in Ohr und Hirn strömen. Die hatte ja auch eine todsichere Strategie gefunden, um bestmöglich durchzukommen, und die zog sie eiskalt durch! Ihr Vater verlangte Einser von ihr; da muss man sich was einfallen lassen!
Wir Mädchen wussten alle, wie sie das machte. Sie hatte uns auf einer Pyjama-Party zu Halloween feierlich in ihr Geheimnis eingeweiht. Kurz nach den Herbstferien hatte es Theresa dann auch probiert - beim Klügel in Latein und mit Steffis Hilfe natürlich. Der Erfolg war durchschlagend gewesen - so durchschlagend, dass sie es hinterher glatt mit der Angst zu tun bekommen hatte! Unseren Lateinlehrer hatte sie trotz der Eins nicht von ihrer Leistung überzeugen können. Er tippte nämlich auf Spickzettel und hatte sie seitdem erst so richtig auf dem Kieker.
Und so beneideten wir Mädchen Steffi um ihre Chuzpe und hielten dicht. Unsere Jungs hatten keine blasse Ahnung; die staunten jedes Mal nur von Neuem über Steffis phänomenales Gedächtnis und ihre Kombinationsgabe.
Fabian blieb trotzdem dicht an mir dran, der freie Stuhl neben mir war seiner. „Nimm Schriftgröße 14!“, raunte er mir zu.
Die Laptops auf unseren Tischen waren schon hochgefahren. Frau Dr. Kiesel stand an ihrem Pult. Sie grüßte knapp und kühl wie immer, dann ging sie die elektronische Klassenliste durch: Lennart, Karsten und Marvin fehlten.
„Ach ja, Lennart: Schulverweis. Der mit der Schmiererei auf der Tür...“, erinnerte sie sich rasch.
„Karsten und Marvin waren vorhin noch auf dem Hof“, meldete Tim auffallend hilfsbereit. „Soll ich...?“
Er sollte nicht. Die Kiesel wollte keine Zeit verlieren.
Für Nico, unseren ADHS-Kasper, war das nicht o.k.; er sprang auf, riss ein Fenster auf und beugte sich weit hinaus: „He, kommt rauf! Bio-Test!“
Die Kiesel schüttelte verständnislos den Kopf. „Fenster zu, Nico!“
Aber Nico hörte nicht; wie gebannt hing er weit aus dem Fenster.
Nach und nach reckten fast alle die Hälse - nur die Kiesel nicht. Da hatte Nico seine Worte wiedergefunden: „Aber da unten liegt einer, der rührt sich nicht! Und da ist alles voller Blut!“
Schülerblicke schossen hin und her. Der Raum hing voller Fragezeichen.
Endlich bewegte sich die Kiesel zum Fenster: ein unterkühlter Blick in den Hof , ein Kopfschütteln.
„Aber... wollen Sie nicht...?“, fragte Nico ungläubig.
„Der wird schon von allein heraufkommen“, meinte die Kiesel lässig. „Länger als zehn Minuten hält das sowieso keiner aus. Ist schließlich ziemlich kalt heute!“ Ungerührt klappte sie das Fenster direkt vor Nicos Nase zu. Dann gab sie vom Pult aus das Testformular frei. „Ihr habt genau 20 Minuten“, sagte sie.
Vor meinem inneren Augen polterten vier große Würfel aus Karton von einem Podest: einer schneeweiß, einer mausgrau, einer schwarz, einer blutrot.
Ich hatte Mühe, mich zu konzentrieren. Welche Typen von RNA gab es noch gleich?
Die Kiesel saß vorne am Pult und behielt uns alle mit ihrem Prüfblick im Visier. Fabian stieß er mich unter dem Tisch mit dem Fuß an und flüsterte: „Nummer 6: t-RNA oder m-RNA?“
Ich zog die Brauen hoch und sah von meinem Bildschirm auf; das war der erste Fehler. Mit der freien Hand den Pony aus der Stirn zu streichen und „Oh, M...ann“ zu murmeln, der zweite: Schon war der Test für mich beendet!
„Fräulein Kunstmann, Datei speichern, schließen und beenden!“
Ich verkniff mir jegliche Widerrede. Anderenfalls - das wusste ich - würde der Findling meinen Test gar nicht korrigieren, sondern gleich eiskalt mit „Sechs“ bewerten. So klappte Frau Doktor nur meinen Laptop zu und wies gleichzeitig Nico an, nochmals einen Blick aus dem Fenster zu werfen.
„Der ist weg!“, rief Nico völlig entgeistert.
„Natürlich“, sagte die Kiesel ungerührt. „Was habt ihr denn gedacht? Morgen schreiben beide Schüler nach!“
Ich griff nach meinem Rucksack. „Darf ich mal zum Klo?“
Ein Nicken der Kiesel - und ich durfte endlich raus aus der Hochleistungsbox. Auf dem Korridor sprang der Bewegungsmelder an; kaltes Neonlicht ergoss sich über den blanken Boden. Meinen Rucksack über der Schulter, schlich ich an der 10b und 10c vorbei bis zu der Treppe, die in die Pausenhalle hinunterführt. Auf der obersten Stufe machte ich es mir bequem, soweit das möglich war: An das Geländer gelehnt, einen Stöpsel meines Players im linken Ohr, frühstückte ich erst einmal. Dass das Licht wieder ausging, störte mich nicht - im Gegenteil! Die Musik und mein süßes Franzbrötchen verbesserten langsam, aber sicher meine Stimmung. Es war fast wie Picknick im Grünen! Und als ich das zweite Brötchen halb aufgegessen hatte, begann ich die morgendliche Ruhe im Halbdunkel des Treppenhauses richtig zu genießen. Ich kramte mein Handy hervor und checkte in aller Ruhe meine neuen Eingänge: Lenny hatte sich per SMS gemeldet, vor einer halben Stunde, zweimal sogar, erstmals wieder nach zwei Wochen! Ob wir uns nicht zum Frühstück in der Stadt treffen könnten, im „Horizon II“, so gegen acht? Ob ich mir nicht ’mal einen freien Tag gönnen wolle? Einen „Tag zero“?
Typisch Lenny! War selber gerade geflogen, hatte Langeweile und wollte mich zum Schwänzen überreden! Und dann noch ins „Horizon II“, dem teuersten Laden der Stadt, Ableger dieser brandneuen, supercoolen Snackbar-Kette aus Heimberg! Guten Morgen, Größenwahn!
Ich zog den schmalen silbernen Freundschaftsring vom Finger und drehte ihn, um die Gravur entziffern zu können. Aber es war zu dunkel dafür. Egal! Ich wusste ja, was drin stand: Lenny & Juli - friends forever 1.8.18. Also steckte ich ihn wieder auf und tippte auf „Neue Nachricht“.
Da sprang unten, einen Stock tiefer, der Bewegungsmelder an. Sofort erfüllte grelles Neonlicht den Flur. Ich musste grinsen: bestimmt Marvin und Karsten, durchgefroren! Nichts mehr mit Ketchup!
Ich reckte den Hals - aber sie kamen nicht. Ich ahnte ein dumpfes „Plomp“: Das Licht ging wieder aus.
„Hi, Lenny“, tippte ich ins Handy, „schon ausgeschlafen?“
Unten wurde es jetzt wieder hell. Aber das registrierte ich nur am Rande; ich wollte meine SMS loswerden. Erst als ein schwarzer Schatten aus der Tür des Jungen-Klos schlüpfte und in Richtung Neubau huschte, sah ich kurz auf. Was war das? Ich zog den Ohrstöpsel heraus und lauschte: Eben fiel eine Zwischentür schmiegend-schmatzend ins Schloss. Das konnte nur die Tür zum Neubau sein! Da unten lagen die Klassenräume der Achten und die Lehrküche. Aber am Ende des Korridors gab es auch noch einen Zugang zum zweiten Treppenhaus, über das man nach oben zu den zehnten Klassen gelangte - und zu dem neuen gläsernen Übergang zu den Räumen der Oberstufe, unserem „Elfenbeinturm“!
Es war jetzt totenstill im Schulgebäude. Nur mein Herz schlug laut - und ungewöhnlich hart und schnell. „Tag zero“, schoss es mir durch den Kopf.
Als wie ein Peitschenknall der erste Schuss fiel, fuhr ich zusammen. Das Licht war noch an. Mein Handy knallte auf die steinernen Stufen der Treppe. Ich sprang auf. Für einen Moment wollte ich dem Teil hinterher, wollte schreien - aber dann schlug ich doch nur die Hand vor den Mund. Starr wie ein Eiszapfen verharrte ich auf der Treppenstufe. Gleich darauf konnte ich hören, dass Klassentüren