L.J. Thomas
Kallistos Familie
Kleine Erzählungen
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Inhaltsverzeichnis
Auf der Suche nach dem richtigen Kanal
Inhalt
L.J. Thomas
Kallistos Familie
Kleine Erzählungen
„Die sogenannten Paradoxien des Autors, an welchen ein Leser Anstoß nimmt, stehen häufig gar nicht im Buche des Autors, sondern im Kopfe des Lesers.“ (Friedrich Nietzsche)
František 5
Bindungsfähigkeit 14
Georg und Frieda 21
Die Geschichte von einem Ende 28
Verwicklungen 47
Zu verbergen lernen 55
Auf der Suche nach dem richtigen Kanal 72
Marions Wärme 80
Aufregende Tage im Klischee 105
Halt finden 115
Abokarten für Akrobaten 129
Kallistos Familie 137
Von Uhren und Menschen 144
Ein Rätsel 152
Der Friede des Vergessens 157
Wir versammeln in diesem Band Geschichten verschiedener Erzähler, die eigentlich anderen Berufen nachgehen. Manche stellen sich oder ihre sonstige berufliche Tätigkeit eingangs vor, andere versetzen sich ohne Umwege zurück in die Studentenzeit, wieder andere beginnen sofort mit ihrer Erzählung – je nach Temperament und Erzählmodus. Der Herausgeber hat in Zusammenarbeit mit den Autoren und Autorinnen die finalen Versionen besprochen und abgestimmt, bei manchen Texten war lediglich eine leichte Redaktion notwendig, bei anderen ein starker textueller Umbau. Auf die Nennung der Autorennamen verzichten wir aus Gründen der Persönlichkeitswahrung.
František
Natürlich wirkte das Geschehen alles andere als normal, was auch für ihn selbst galt. Wir waren inzwischen mehrere Geschädigte und hätten eine Selbsthilfegruppe gründen können. Doch eins nach dem anderen: Viele junge Leute, alles Studenten, Junggesellen, wohnten in einem Haus, das aus vielen kleinen Appartements bestand – eine Art Studentenwohnheim, das aber keins war. Frauen Fehlanzeige. So war das damals. Mittendrin wohnte František. Ein eigentlich ruhiger, zunächst unauffälliger Typ – wobei gerade seine Ruhe auffallend war. Er war ein Vertreter jener Sorte, die oft ambivalent wirkt: angenehm, nicht laut und aufdringlich wie so viele sind – und etwas suspekt, da so hintergründig, nachdenklich wirkend.
Tatsächlich war er extrem merkwürdig. Unerklärlicherweise forderte er eines Abends einen Wohnungsnachbarn zu einem nächtlichen Ringkampf ein. Da dieser Sport-Student war, keiner sportlichen Gelegenheit auswich und zudem bald eine Ringen-Prüfung bevorstand, nahm er das Angebot an und erschien gegen 1 Uhr nachts in Františeks Zimmer. Der saß am Schreibtisch, beendete einen offenbar kurz zuvor begonnenen Arbeitsschritt, den er ostentativ zu Ende führte – wie mäßige Schauspieler dies auf Provinzbühnen tun würden, also mit einem leichten Seufzer, aber wortlos –, stand dann auf und ging zu seinem Kontrahenten. Vor dem Schreibtisch war etwas Platz, vielleicht hatte František ihn eingerichtet, eine Stehlampe oder einen Ohrensessel beiseitegeräumt, jedenfalls reichte die Fläche für einen fairen Kampf im griechisch-römischen Stil – der war vereinbart worden. František studierte Germanistik und Philosophie; deshalb der Hang zum Griechisch-Römischen? Die Kämpfe, deren Ausgänge ich nicht kannte und kenne, fanden etwa eine Woche lang alle zwei Nächte statt. Dann hörte man das typische Männer-Stöhnen und Gepolter immer seltener aus seinem Zimmer. Schließlich verschwand es ganz, es wurde ruhig auf unserer Etage.
Ich weiß nicht, warum und wann genau mir das Gepolter zu fehlen begann. Meine Tage sind gefüllt mit juristischen Texten, die ich lesen, verstehen und auch schon mal kommentieren muss. Da kamen mir die Sportgeräusche aus dem Nachbarzimmer gelegen; ich hatte begonnen, sie zu mögen. Für mein Studienfach hatte ich mich einmal entschieden, weil ich geglaubt hatte, dass hier spannende Geschichten lagern und auch subtil ausgedachte und durchgeführte Straftaten, Einbrüche etwa und Dramen zwischen Liebenden, die in Mord oder Totschlag enden mussten – sanftere Alternativen gab es in diesen hochemotionalen Beziehungen gar nicht –, Verwandtschaftskonflikte, die in Betrügereien, Anklagen, Lügen münden, sodass der Anwalt lange an einem Fall arbeitet und sich ein Kosmos einer psycho-emotionalen Parallelwelt auftut, die schließlich nur er verstehen kann, der nach und nach alle Beziehungen durchblickende Advokat. Das war dann natürlich ich. Ich sah mich kombinierend, emphatisch mit Menschen umgehend,