Er lernte auf seine Chancen zu warten, warten bis für ihn die Zeit reif war. Sollten die anderen doch vorbeiziehen. Es machte keinen Sinn, in Kräfte raubenden Scharmützeln regelmäßig den Kürzeren zu ziehen. Später überholte er viele seiner Konkurrenten aus seinem Umfeld, bei ihm dauerte alles etwas länger. Die Zeit, insbesondere die Eile in der Zeit, in seiner individuellen Zeit, hat ihn nie zu hektischem Aktionismus veranlasst, warum auch? Es gibt eine verbindliche Zeitmessung auf physikalischer Grundlage und es gibt ein individuelles Zeitmaß, eine innere Uhr, die den Takt des Lebensrhythmus eines Menschen vorgibt. Es würde jeder gut daran tun, diesem Takt Beachtung zu schenken.
Die Gedanken stocken, sein Blick starrt durch die Glasscheibe des Fensters, hinaus auf die kahlen abgeernteten Felder, er folgt dem Wechselspiel von Licht und Schatten. Umständlich zündet er seine fast leere Pfeife wieder an, nur um festzustellen, dass da nichts mehr ist, was sich anzünden lässt. Der Vater. Er verweilt lieber noch etwas bei der nutzlosen Beschäftigung mit der leeren Pfeife. Ein Düsenjet überfliegt mit heulenden Triebwerken das Haus. Klassische Musik aus Haydens „Der Morgen“ verfehlt ihre Wirkung. Völlig unpassend, konträr zu seiner Stimmung, er fühlt nicht den erwachenden Tag, das Aufblühen des Lebens. Erfreulich ist das zweite Stück der CD, ein Orgelkonzert von J. S. Bach, es untermalt in vortrefflicher Weise seine trübsinnige Stimmung.
Sein Vater, wie erinnert man sich an einen Menschen, der in den ersten Erinnerungen nur als eine Person auftaucht, von der man außer einem Bild keine gefühlte Beziehung hat, ein Neutrum, weder gut noch schlecht.
Er stand frühmorgens um fünf Uhr auf, fuhr in die Arbeit, kehrte um halb sechs Uhr abends zurück, aß zu Abend, nahm seine Zeitung, setzte sich in eine Ecke und las, oder arbeitete noch im Haus, Tag für Tag, jahrzehntelang. Vor allen Dingen wollte der Vater seine Ruhe. Diese forderte er nicht offensiv ein, man spürte aber, was er wollte.
Manchmal beschäftigte er sich auch mit seinem Sohn, manchmal. Verschwommene Bruchstücke von Erinnerungen deuten sich an, lassen sich jedoch nicht zusammenfügen. Von einer Beziehung zwischen Vater und Sohn ist dabei aber wenig zu spüren. Der Mann war in sich gekehrt, mit sich und seinen Erinnerungen an die Vergangenheit, an Krieg und Gefangenschaft beschäftigt. Seiner Frau mit ihrer zänkischen, fordernden Art, war er nicht gewachsen.
Nachgiebig, um des Friedens willen, blieb er meist stumm. Keine Hilfe oder Stütze für den Sohn bei all den Ungerechtigkeiten der Mutter. Von einem prägenden, leitenden Vorbild eines Vaters für seinen Sohn, war er weit entfernt. Im Gegensatz zur Mutter ging aber keine körperliche Gewalt von ihm aus. Dies vermied er konsequent, nahm dafür gar einem offenen Streit mit der Mutter in Kauf, die einmal von ihm verlangte, den Sohn, nachträglich am Abend, für eine Bagatelle zu schlagen. Da war ein deutlicher Zorn in seiner ablehnenden Antwort zu spüren, ein Zorn, der sogar die Mutter verstummen ließ.
Einmal ließ er sich dann doch dazu hinreißen, und gab seinem Sohn eine Ohrfeige. Dieser platzierte seiner Schwester, aus niedrigen Beweggründen, einen doch recht großen Hammer mittig auf deren Stirn, im Zentrum des Lobus frontalis, besser bekannt als Frontallappens oder Stirnlappen. Da erwiesenermaßen eine Schädigung dieses wichtigen Teiles des menschlichen Gehirns verheerende Auswirkungen auf das Verhalten des Menschen haben kann, bekommt er bei näherer Betrachtung seiner Gewalttat fast ein schlechtes Gewissen. Sollte er etwa an der seltsamen Entwicklung seiner Schwester schuld sein?
Nein, beileibe nicht, es war eine nachvollziehbare, emotionale Kurzschlusshandlung eines Minderjährigen und nicht in Tötungsabsicht ausgeführt. Diese ewig heulende Nervensäge schaffte es doch tatsächlich, ihrem Vater etwas Gefühl zu entlocken und hatte ihn glatt ausgebootet, wenn dies bei so einem Vater- Sohn Verhältnis überhaupt möglich war. Man wird sich doch wehren dürfen!
Die Ohrfeige war nicht heftig, doch als Einzelaktion seines Vaters während einer ganzen Kindheit sehr einprägend. Nun, der Vater hatte sich der weiblichen Majorität gebeugt und der Tochter, als wichtigstes Kind der Familie, auch bei sich eine Vorrangstellung eingeräumt. Er kann heute seinen Vater verstehen, vielleicht wollte der einfach ausschließen, dass sich biblische Geschichten in der Gegenwart wiederholen.
Der Vater war keine dominante Persönlichkeit, keine Größe, an der man sich reiben oder messen konnte. Er war auch kein Schwächling, was seine Körperkräfte betraf. Ein Händedruck von ihm zauberte einem schon schmerzvolle Züge ins Gesicht. Als einmal bei einem Ausflug des Skivereins die Torstangen nicht in den Stauraum des Reisebusses passten, brach er sie vor den Augen der staunenden Zuschauer, mit einer verblüffenden Leichtigkeit, auf eine angemessene Größe ab. Da war der Sohn einmal stolz auf seinen Vater.
Es folgte bedauerlicherweise, lange Jahre, keine Wiederholung einer solchen Begebenheit. Nachdem er, wegen seiner Ehefrau, sein Engagement im örtlichen Skiverein aufgab, traf man ihn selten in Gesellschaft an. In einer Gaststätte war er nie zu finden, auch zu Hause trank er kaum einmal eine Flasche Bier. Manchmal meinte man, er wäre gar nicht da.
Dabei gab es Fotografien, die ihn als jungen Mann zeigten, lachend in Gesellschaft von Frauen und Freunden beim Skifahren, fröhlich, vital, unternehmungslustig. Ein Prachtbild von einem Mann. Was hatte diesen Mann gebrochen? Waren es die langen, leidvollen Jahre im Krieg und die anschließende Gefangenschaft in Russland? Darüber sprach er verhältnismäßig wenig, was nicht viel heißen will, da er überhaupt selten sprach. Vielleicht gab es Dinge über die er nicht sprechen konnte oder wollte?
Eine der wenigen Erzählungen handelte von einem russischen Soldaten, den er erschossen hat. Er tötete ihn und sah ihm dabei in die Augen. Bei dieser Erzählung, die sich im Laufe der Jahre mehrere Male wiederholte, wirkte er noch bedrückter als sonst. Brach in diesem Moment, als er diesen Menschen erschoss, das alles rechtfertigende Feindbild zusammen? Sah er einfach nur einen jungen Mann, wie er einer war, sah er die Angst in seinen Augen, in Augen, die in diesem Augenblick ahnten, niemals wieder Mutter, Vater, Frau oder Kinder zu sehen, ohne Abschied, ohne versöhnliche Worte oder Trost?.
Verfolgten ihn die verzweifelten Augen des Mannes, der wahrscheinlich so wenig wie er, dieses unsägliche Töten wollte? War die Bürde dieser Schuld zu schwer für diesen, in seiner Jugend lebenslustigen, starken Mann? Hat er sich mit diesem Schuss selbst auch getötet, nicht seinen Körper, sondern seine Seele?
Brachen ihn die langen Jahre der Gefangenschaft in Sibirien? Was musste er da erdulden, welches Leid sah er da. Wie knapp hat er dies alles überlebt, immer den Tod vor Augen. Die ständige Angst, die Heimat, das Elternhaus, Vater und Mutter niemals wieder zu sehen. Verscharrt in der Weite Sibiriens, wie ein Teil seiner Kameraden. Achtlos weggeworfenes menschliches Leben, bedeutungslos, ohne jeden Wert. Jeden Tag der Kampf ums Überleben, machtlos, nur um am nächsten Tag die gleiche Prozedur auf Neue zu erdulden, und am nächsten Tag, und am übernächsten Tag, monatelang, jahrelang.
Was hatten sie in diesem Land verloren? In einem Land in dessen Weite noch keine Nation und auch noch kein so großer Stratege oder Feldherr einen dauerhaften Sieg erringen konnte. Was erzählten sie ihnen für einen Unsinn von Untermenschen, Bolschewiken, einer den Herrenmenschen unterlegenen, minderwertigen Rasse. Sie hatte es ihnen gezeigt, diese minderwertige Rasse, ihnen, den besten Soldaten der Welt, den Arsch hatten sie ihnen versohlt, den Herrenmenschen.
Oder war alles ganz anders gewesen? Was bedrückte seinen Vater? Gab es Dinge in diesem Krieg, die er nicht erzählen konnte? War auch er an den Unmenschlichkeiten der Wehrmacht beteiligt, von denen zu dieser Zeit niemand sprach? Taten, für die er sich schämte, die durch nichts zu rechtfertigen und damit zu erklären waren. War auch er einer dieser willfährigen, entmenschlichten Mitläufer, die im nach hinein sich und ihre Taten selbst nicht mehr begriffen, die den Rest ihres Lebens mit dieser Schuld nun alleine leben mussten, denn wem sollten sie sich offenbaren, wer würde das verstehen?
Es war ja nicht so, dass er sich