Morgen werde ich verkauft. Wolfgang Pfeifenschneider. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wolfgang Pfeifenschneider
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783741820632
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      Wenn Vater etwas mit uns unternahm, gehörte Erika stets dazu. Ob Kleidungsstücke oder Spielzeug, wir wurden gleichmäßig beschenkt. Erika nannte unseren Vater Onkel Hans.

      Meine Patentante war die Schwester des Bankiers Schwartz aus Berlin. Dieser hatte eine große Villa in der Grunewaldstraße. Die stand auf einem 33.000 Quadratmeter großen Grundstück, ich erinnere mich auch an eine große Orangerie. Großvater Conell, der Vater unserer Mutter, war dort Gärtner und wir durften ihn ab und an dort besuchen. – Die Schwartzsche Villa gibt es heute noch, sie wurde später an die Stadt Berlin verkauft und ist nach vielen Umbauten und unterschiedlichen Nutzungen heute Kulturzentrum des Bezirks Steglitz-Zehlendorf.

      Unser Vater wohnte im Urlaub oder wenn er dienstlich in Berlin zu tun hatte stets bei seiner Mutter (sein Vater, unser Opa, war bereits verstorben) in der Liliencron-Straße 8 in Südende, damals eine Villenkolonie in Steglitz. Oma Adele war Hausdame bei Frau Geheimrat Dallmeier. Eine Tochter von Frau Geheimrat war die seinerzeit sehr bekannte Schauspielerin Lil Dagover. Unser ganz persönlicher Star war jedoch mehr ihre Schwester, Frau Dr. Voss. Denn sie war immer sehr nett zu uns. Einmal hatte sie uns zur Besichtigung des Funkturms eingeladen. Im Restaurant bekamen wir eine Brause, danach fuhren wir mit dem Fahrstuhl zur Aussichtsplattform in 138 Metern Höhe. Die Aussicht über Berlin war toll! Anschließend ging es noch zu Wertheim, in diesem riesigen Kaufhaus durften wir uns noch Spielzeug aussuchen. Das war ein wunderbarer Abschluss eines unvergesslichen Tages mit Frau Dr. Voss.

      Kurz vor Ferienende sagte Vater: „Wir müssen zurück. Es ist Mobilmachung!“ Die Koffer wurden schnell gepackt und wir fuhren zurück nach Altenessen. In den Zügen und auf den Bahnhöfen waren schon viele Soldaten zu sehen. Am 1. September 1939 begann der Zweite Weltkrieg mit dem Einmarsch der Deutschen in Polen.

      Ruhe vor dem Sturm

      Eineinhalb Jahre später, im April 1941, wurden Joachim und ich Pimpfe beim Jungvolk, der kleinen Hitler-Jugend, dem Sammelpunkt der Nationalsozialisten für die 10- bis 14-Jährigen. Auf unserem Wimpel stand „WEST-RUHR-NIEDERRHEIN“. Mittwoch und Samstag war fortan Dienst auf Bückmannshof.

       Wir wollten die Schule wechseln, und zwar zur Oberschule in der Essener Stankheitstraße (heute Leibniz-Gymnasium). Dafür mussten wir eine dreitägige Aufnahmeprüfung ablegen, das war zu damaliger Zeit Pflicht. Nach bestandener Prüfung konnten wir die Oberschule besuchen. Direktor war Dr. Ortmann. Mutter schrieb in einem Brief an ihre beste Freundin, mit der sie früher in Berlin auf dem gleichen Fernamt gearbeitet hatte, wie sehr sich ihre Jungens über die große Turnhalle gefreut haben. Neben der Schule lag der große Kaiser-Wilhelm-Park. In der Mitte eines großen Kahnteichs lag die Roseninsel, die man über eine Brücke erreichen konnte. Nach Unterrichtsschluss gingen wir gern und oft zum Rudern dorthin. Ringsherum standen große, tief hängende Trauerweiden.

      Nachmittags zog es uns damals oft in Vaters Lederfabrik. Dort wurden Treibriemen, Schutzbekleidung für die Bergwerke, für Gießereien und die Feuerwehr hergestellt. In Erinnerung geblieben ist mir die Herstellung der Helme für die Bergleute: Zuerst wurden zwei Hälften für die Helme ausgestanzt und zusammengenäht. Dann wurde der Helm in eine Wachslösung getaucht und über Modellköpfen der unterschiedlichsten Größen gezogen und mit Hilfe einer Presse in Form gedrückt. Anschließend wurden die Helme in einem riesigen Ofen getrocknet. Wir Kinder machten uns einen Spaß daraus, die Hände bis zum Ellenbogen in die abgekühlte Wachsmasse zu tauchen. Dann prahlten wir mit unseren tollen Handschuhen. Leider mussten wir hinterher ordentlich kämpfen, um die Pracht wieder loszuwerden. Gelegentlich durften unsere Freunde mitmachen, dann war es nochmal so schön.

       Die Zeiten wurden schlechter, für das WHW (Winterhilfswerk) mussten wir so oft es ging sammeln gehen. Mutter schreibt in einem Brief an ihre Freundin: “Die Jungens sammeln eifrig, eine Büchse ist schon voll.“ Für die Schule mussten wir Altstoffe sammeln, Eisen, Knochen und Papier. Das war Pflicht für jeden Schüler. Die Besten wurden mit einer Reise zum Führer nach Berlin belohnt. Wir leider nicht. 1942 – es waren wieder einmal große Ferien – und wir fuhren noch einmal zu den Großeltern nach Berlin. Sie hatten im August 1942 Goldene Hochzeit, die wir alle miteinander fröhlich feierten (Foto unten).

      Bomben von oben

       Im Frühjahr 1943 wurde es mit den Luftangriffen auf das Ruhrgebiet immer schlimmer, manche Woche kamen wir aus dem Keller gar nicht mehr heraus. Am 5. März 1943 wieder ein Großangriff: Die Fabrik wurde getroffen und bis auf das Wohnhaus und einen kleinen Schuppen wurde alles zerstört (Foto unten).

      Unser Vater und ein Mitbewohner des Hauses hatten gerettet, was zu retten war. Es wurde aus den Flugzeugen auf sie geschossen, sie gaben auf, es ging nicht mehr. Kurz bevor Vater in den Keller eilte, ging in direkter Nachbarschaft eine Bombe nieder. Vater wurde durch den Luftdruck zwischen Tür und Rahmen eingeklemmt. Wir schrien nach unserem Vater, konnten ihm jedoch nicht helfen. Noch in der gleichen Nacht, am 5. März 1943 wurde auch unsere Oberschule schwer getroffen. Der Unterricht viel fortan ganz aus.

      Das Lebenswerk meines Vaters war vernichtet. Er hatte für die Fabrik gelebt, Verbesserungen erdacht und umgesetzt. Er konstruierte neue Maschinen zur Beschleunigung des Arbeitsganges und zur Erleichterung für die Belegschaft. Ich erinnere mich, dass die Joh. Frohn Maschinenfabrik noch Anfang des Jahres 43 zwei neue Maschinen geliefert hatte. Herr Frohn und unser Vater kannten sich von der TN (Technische Nothilfe), beide waren in der Heimat dienstverpflichtet, mussten deshalb nicht wie die meisten Väter unserer Mitschüler an die Front.

      Vater beschloss, uns und unsere Mutter aufs Land zu bringen. Es ging nach Elvert-Lüdinghausen bei Dortmund. Es war ein schöner Bauernhof mit Gaststätte. Wir waren gut untergebracht und hatten eine schöne, unbeschwerte Zeit. Nur um unseren Vater machten wir uns viele Sorgen. Wir hatten Angst um ihn. Am 1. Mai feierten wir unseren zwölften Geburtstag etwas leiser. Denn Mutter war sehr in Sorge um Vater, es waren so viele Luftangriffe auf Essen.

      Nur wenige Tage später, am 12. Mai 1943 hatte Vater Geburtstag – seinen 40. Diesen konnte er jedoch überhaupt nicht feiern, da er ständig im Einsatz war. Vater hatte sich bei einem dieser Einsätze sogar verletzt. Auch nach dem Luftbombenangriff auf die Möhnetal sperre am 17. Mai 43 war Vater gefragt. Im und um unser Ruhrgebiet war im letzten Jahr des zweiten Weltkrieges kein einziges Fleckchen mehr sicher. Die Eltern beschlossen, uns Jungs nach Bad Reichenhall zu schicken. Über die NSV (Nationalsozialistische Volkswohlfahrt) war das möglich. Die Stadt Essen hatte dort ein Kinderheim. Am 27. Mai 1943 sollten wir nach Bad Reichenhall fahren.

      Nach dem Totalverlust des Altenessener Werkes war die Firma meines Vaters in Dresden auf der Suche nach einem neuen Standort. Teplitz-Schönau oder Reichenberg standen zur Wahl. Wir wussten, dass wir von Bad Reichenhall nicht mehr nach Essen zurückkehren würden, wenn die Entscheidung schnell fällt.

      Die letzten guten Tage

      Im Augenblick jedoch brach für Jochen und mich der letzte Tag in Elvert-Lüdinghausen an. Am 26. Mai 43 konnten wir uns verabschieden und es ging zurück nach Altenessen. Vater holte uns vom Bahnhof ab und wir schliefen noch eine Nacht in der ziemlich demolierten Wohnung. Der folgende Tag, der 27. Mai 1943 war unser Abreisetag. Der Zug nach Bad Reichenhall fuhr um 23 Uhr vom Bahnhof Essen. Unsere Eltern brachten uns an den Zug. Er war pünktlich und es ging los, fröhlich winkten wir den Eltern nach.

      Wir