Einige Jahre lang konnte mein Vater ein Dienstmädchen bezahlen und meiner Mutter die Arbeit erleichtern. Die Häuser damals waren nicht mit fließendem Wasser ausgestattet, dieses musste in eigens dafür bestimmten Eimern vom Pumpbrunnen am Ende der Straße geholt werden. Die dörfliche Art, Wasser zu holen, waren zwei an einem Joch befestigten Eimer. Doch die Städter waren sich zu gut, um ein Joch auf den Schultern zu tragen. Also gingen die Frauen ständig mit einem Eimer straßauf, straßab. Meine Großmutter hatte jedoch ihren eigenen Brunnen im Hof.
In der kalten Jahreszeit musste man außerdem den Ofen mit Holzscheiten und Kohlebruch heizen. Zunächst jedoch wollte das Holz gespalten und in handliche Stücke gehackt werden und die Anthrazitkohlebrocken ebenso. Als wir kein Dienstmädchen mehr hatten, übernahm Vater diese schwere Arbeit.
Die Bettwäsche wurde von einer Wäscherin abgeholt und sauber gewaschen und gebügelt zurückgebracht. Im Winter wurde das Essen auf dem Ofen gekocht, im Sommer hatten wir einen Petroleumkocher, einen „Primus“. Das Paraffinöl wurde einmal in der Woche auf der Straße von fliegenden Händlern verkauft. Alle Hausfrauen und Bediensteten standen dann Spalier, mit großen Flaschen oder Kanistern bewaffnet.
Da mein Vater ein gesuchter Spezialist auf seinem Gebiet war, ging es uns recht gut. Er hätte sogar eine Wohnung mit Zentralheizung und fließendem Wasser bekommen können, wenn er sich bei seinem Arbeitgeber mit Schmeicheln und Bitten dafür eingesetzt hätte. Doch das lag ihm vollkommen fern. Er liebte vor allem die Arbeit vor Ort, an der Baustelle, mit Strominstallation und Trafo. Längeres Verweilen im Büro setzte ihm schwer zu, er wollte sein, wo die eigentlichen Probleme zu lösen waren. Sein Element war die Einrichtung eines neuen Kraftwerks,
Wir zogen ständig um, dahin, wo ein neues Kraftwerk im Entstehen war. In den zehn Jahren meiner Schulkarriere war ich an sechs verschiedenen Schulen. In den langen Sommerferien schickte mein Vater nach wie vor Mutter und mich ans Meer, er selbst konnte sich selten frei machen.
Kapitel 3 Sommerfrische (1927 – 1934)
In meinem fünften Lebensjahr waren wir in Berdjansk am Asowschen Meer in der Sommerfrische, als meine Mutter durch langes Sitzen in nassen Badeanzug am Strand eine Rippenfellentzündung bekam und schwer erkrankte. Sie bat ihre jüngere Schwester Sonja zu sich und schärfte ihr ein, gut auf mich aufzupassen und ihren Mann Sergej zu heiraten, falls sie sterben würde. Doch Sonja gab ihr eine Antwort, die in unseren Familien zum geflügelten Wort wurde:
„Ich bin nicht dein Ersatzmädchen. Ich finde mir meinen Mann einmal selbst. Und du, stirb du gefälligst nicht!“ Meine Mutter gehorchte.
Im Jahr darauf mieteten wir mit zwei anderen befreundeten Familien, den Anajews und den Rolenkos, die Datscha einer alten Bekannten meiner Großeltern in Sudak am Schwarzen Meer. Meine Freundin Oletschka Anajew und die zwei Töchter der Rolenkos waren traumhafte Spielgefährten für mich. Oletschka war lustig und stets zu Streichen aufgelegt und alles tanzte nach ihrer Pfeife. Für mich, die es gewohnt war, immer brav zu sein, war sie ein unerreichtes Vorbild. Manchmal wurde ich, gestärkt durch ihre Gegenwart, sogar ein bisschen frech.
Einmal machten wir alle zusammen einen Ausflug um den dortigen Berg Oltschaka. Der Weg war sehr uneben, und wo er notdürftig asphaltiert worden war, lagen Bruchstücke davon herum. Die Väter standen auf dem Beton und reichten einander ein Kind nach dem anderen weiter. An anderen Stellen konnten wir selbst von Steinbrocken zu Steinbrocken springen, so etwas vergisst man nie wieder.
Abbildung Karte der Ukraine
Unsere Hauswirtin und Vermieterin, Sinaida Petrowna, versorgte uns auch mit Essen. Wir saßen alle zusammen an einem langen Tisch und ließen es uns schmecken. Nur als es einmal gekochte Maiskörner als Beilage gab, beschwerte sich Peter Anajew übellaunig:
„Wie könnt ihr nur so etwas essen! Ihr seid wie die Pferde, nur die Schwänze fehlen euch noch!“
Er war, wie ich später erfuhr, aus dem Norden und kannte Mais als Lebensmittel nicht. Damals aßen die Leute nur regionale Produkte, denn es blieb ihnen meistens nichts anderes übrig.
Als ich siebeneinhalb war, verbrachten wir den Sommer in Feodosja. Dort lernte ich meinen zwei Jahre jüngeren Freund Georg (Jura) Bosse kennen. Die Bosses hatten sich in derselben Datscha eingemietet wie wir und anstatt mit seiner zwölfjährigen Schwester Olga spielte ich dauernd mit Jura. Nach so einem Bruder hatte ich mich immer gesehnt! Auch als die Eltern in einem gemieteten Boot eine Rundfahrt nach Jalta und Lavadia machten, wollt en wir Kinder nicht mit. Was könnte es in Jalta schon zu sehen geben?
Sein Vater erlaubte es Jura, auf dem Boden zu schlafen, und ich bettelte bei meiner Großmutter so lange, bis sie mir auch eines Nachts eine Decke auf dem Boden ausbreitete und ich dort bis zum Morgen auf dem harten Untergrund ausharrte, dies aber nie wiederholen wollte, so glücklich ich über die Erfüllung meines Wunsches gewesen war.
Da die Bosses in Charkow lebten, dauerte unsere Freundschaft an, bis ich zwölf war und mein Vater auf die Halbinsel Kolyma im hohen Norden versetzt wurde. Als ich zwei Jahre später mit 14 zurückkam, hatten wir uns auseinandergelebt.
Doch seine Schwester Olga galt als altklug und streng, ich hatte Angst vor ihr, weshalb ich die ganzen Jahre fast nur mit Jura sprach. Viel später fand ich heraus, dass Olgas und Juras Mutter den Sohn der Tochter so sehr vorzog, dass das ältere Mädchen immer verschlossener wurde. Jedes Jahr besuchten die Familien einander, meist im Frühling, aber einmal auch zur Weihnachtszeit.
Dies waren noch keine wirklich schlechten Zeiten. Doch als Stalin an die Macht kam, wurde alles allmählich immer schwieriger und gefährlicher. Zunächst machte er sich an die Vernichtung der „alten“ Intelligenz, derjenigen, die vor der Revolution in leitenden Positionen waren, doch dann vertrieb er und merzte auch noch die nachfolgenden Funktionäre aus.
Als kleines Mädchen bekam ich natürlich nichts davon mit, denn meine Eltern sprachen in meiner Gegenwart nie über Politik.
Es war unter Stalin streng verboten Weihnachten zu feiern. Weihnachtsbäume galten als „religiöses Vorurteil“, in Jusowka gab es keine zu kriegen, doch in Charkow wurden sie vereinzelt zum Verkauf angeboten. Meine Mutter kaufte also bei unserem Adventsbesuch bei der Familie Bosse eine kleine Fichte, wickelte sie in ein Tuch ein und nähte dieses sorgfältig zusammen. Zu der Zeit war es allgemein nicht üblich mit Koffern zu verreisen. Jeder hatte sein geschnürtes oder zugenähtes Bündel auf Reisen dabei. Diese Bündel bestanden aus einem Sackleintuch, das auf der einen Seite mit Knöpfen, auf der Gegenseite aber mit Knopflöchern ausgestattet war. Unten nähte man sie zu, an den Seiten und oben war ein Saum, durch den ein Strick geführt wurde, den man dann zusammenziehen konnte. War das Bündel zugeknöpft und der Strick verknotet, hatte man ein prima Reisegepäck. Der Strick wurde im oberen Teil noch mit Leder verstärkt, damit man das Bündel auch tragen konnte.
Als meine Mutter das Tannenbäumchen aus Charkow auspackte, standen nicht nur meine Großeltern, sondern auch mein Onkel Konstantin (Kostja) und meine Tante Sonja mit dabei.
Wir verbrachten das folgende Osterfest auf dem Gut meiner Großeltern mütterlicherseits. Sie hatten ein Schwein und Hühner. Ich sah zum ersten Mal Küken schlüpfen. Und meine Oma Sabine hatte Grassamen in eine Schüssel mit Erde getan, die aufgegangen waren. Die ganze Schüssel war voll mit dichtem grünem Gras, in das sie gefärbte Eier legte. Natürlich gab es zu jener Zeit keine Eierfarben, doch man legte die Eier z.B. in kochendes Zwiebelhautwasser, dann wurden sie gelb. Um sie rot oder blau zu färben, tat man dann anschließend noch etwas Tinte ins Wasser.
Von Opa bekam ich zu Ostern ein Bilderbuch für Kinder, das mit Versen ausgestattet war. Es hieß „Die Abenteuer von Grischka in der Arktis“. Es war mir schon vorher leicht gefallen, Gereimtes schnell auswendig zu behalten und nie wieder zu vergessen. Der Rhythmus klang in meinem Kopf nach, so schien es mir.
Das